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Lösungen zu den kognitiven Aufgaben

zusteigt. „Sie war mir sofort unsympathisch“ (Zeile 12 f.), so beschreibt die Ich-Erzählerin ihren unmittelbaren Eindruck. Alles

an dieser Frau stört sie. Das Kirschrot des Mantels, die Stiefel, die Haare. Auch wie sie ihre Frühstücksbrote im Bus verzehrt,

findet die Ich-Erzählerin abstoßend: „Sie schmatzte nicht, und trotzdem erfüllte mich ihr essender Anblick mit Ekel“ (Zeile

26 f.). Nach einiger Zeit begegnen sich erstmals die Blicke der beiden Frauen, sie mustern einander: „Unsere Feindschaft war

besiegelt“ (Zeile 34).

Es bleibt nicht bei Ablehnung, die Ich-Erzählerin schreitet fort zu Demütigungen: Sie setzt sich auf den gewohnten Bus-Platz

der anderen, die aber darauf nicht reagiert. Als die Frau einmal nicht einsteigt, geht sie der Erzählerin richtig ab. Sie braucht

die Frau, um ihre Vorurteile weiter anbringen zu können. Ihren Bekannten erzählt sie vom Schmatzen der Frau, ihrem

Körpergeruch, ihrer unreinen Haut, ihrer knarrenden Stimme – alles erfunden.

Einmal nimmt die Erzählerin ihre Freundin im Bus mit. Ihr hat sie noch nie von dieser Frau erzählt. Nachdem diese Freundin

die zugestiegene Frau beobachtet hat, meint sie zur Ich-Erzählerin: „Schau mal, die mit dem roten Mantel, die jetzt das Brot

isst, also ich kann mir nicht helfen, aber die erinnert mich unheimlich an dich. Wie sie isst und sitzt und wie sie schaut“ Zeile

74 ff.).

Diese Sätze liefern die Lösung zu der im Titel der Erörterung gestellten Frage „Wie und warum entstehen Vorurteile?“

Vorurteile sind, laut Definition, negative Zuschreibungen, die man auf andere projiziert, und münden in Konflikte, die man

selbst erzeugt hat. Sie sind oft nichts anderes als die eigenen negativen Eigenschaften und unbewältigten

Persönlichkeitsprobleme, die im Widerspruch stehen zu dem idealen Bild, das man von sich selbst erstellt, oder zu gesell-

schaftlichen Erwartungen, die man erfüllen möchte, aber nicht oder nur ungenügend erfüllen kann.

Wie schwer es ist, seine Vorurteile zu erkennen und sie nicht als „normal“ anzusehen, zeigen auch zwei Textzitate: „So geht es

mir oft: Ich sehe fremde Menschen, wechsle kein Wort mit ihnen und fühle Ablehnung und Ärger bei ihrem bloßen Anblick“

(Zeile 13 ff.). Und: „Erst als sie einige Tage nicht im Bus saß und mich dies beunruhigte, erkannte ich die Notwendigkeit des

allmorgendlichen Übels. Ich war erleichtert, als sie wieder erschien“ (Zeile 46 ff.). Der Ich-Erzählerin ist bewusst, dass sie die

andere als Objekt ihrer Ablehnung braucht, aber sie weiß nicht, dass dies geschieht, um ihre eigenen Probleme auf sie proji-

zieren zu können. Sie weiß auch nicht, dass diese Frau ein Sündenbock für sie ist; vielleicht für den Arbeitsplatzwechsel oder

den frühen Bus oder den kalten Winter.

Offen bleibt in dieser Kurzgeschichte, ob die Ich-Erzählerin durch die Bemerkung ihrer Freundin erkennt, wie sie ihre

Vorurteile, die aus ihrer Frustration und Unzufriedenheit mit sich selbst entstehen, auf die andere Frau projiziert. Und noch

viel ungewisser ist es, ob sie diese Vorurteile, wenn sie diese erkannt hat, auch ablegen kann.

(494 Wörter)

KT 2

a.

Schlüsselfragen stellen und dazu Antworten finden; Text: Franz Hohler: Eine kurze Geschichte (Schülerbeispiele)

Gattung?

– Kurzgeschichte (direkter Einstieg, direkte Einführung der Personen, offener Schluss, typische Alltagssituation, kei-

ne Namen)

Verhältnis Erzählzeit /erzählte Zeit?

– zeitraffend

Ort/Milieu /Zeit?

In einer alltäglichen Familie am Abend, vor dem Schlafengehen der Kinder

Stil?

– Alltagssprache; direkte Rede (allerdings ohne Kennzeichnung durch Anführungszeichen) – auffällig: nur die Kinder

kommen nicht zu Wort

Inhalt?

– Eine Frau bittet ihren Mann, den Kindern noch Gute Nacht zu sagen. Er möchte vorher noch einen Brief zu Ende

schreiben. Als er fertig ist und ins Kinderzimmer kommt, schlafen die Kinder schon.

Absicht des Textes?

– Manchmal (häufig?) vernachlässigen wir die persönliche Kommunikation, die einfach wäre und außer-

dem gewünscht und nicht immer verfügbar ist, zugunsten von anderen Aufgaben oder Dingen, die man zurückstellen könnte.

Wenn man den richtigen Kommunikationszeitpunkt versäumt, ist er nicht so leicht wieder herstellbar.

Interessant ist auch, dass Hohler zwei Kommunikationsformen einander gegenüberstellt, die direkte zwischen Vater und

Kindern und die indirekte zwischen Vater und Briefadressat(in). Auf moderne Kommunikationsformen umgelegt, könnte man

die Kritik Hohlers erweitern auf den Ersatz von indirekter Kommunikation zum Beispiel über Facebook statt persönlicher

Freundschaften und Gespräche.

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