Was brauchen neurodivergente Kinder, um lesen zu lernen? Das hat öbv-Geschäftsführer Philipp Nussböck beim LERCHE Lesekongress mit ADHS-Expertin Michaela Hartl besprochen. Hier eine Zusammenfassung.
Warum haben es Kinder mit ADHS beim Lesen oft besonders schwer?
Fürs Lesen sind Konzentration und Fokus nötig. Bei Menschen mit ADHS braucht das Gehirn aber mehr Motivation und Spannung, um konzentriert sein zu können. Auch Kinder mit ADHS können gut und gerne lesen lernen – sie brauchen nur bestimmte Bedingungen, damit ihr Gehirn dafür bereit ist.
Was kann man also tun, um es Kindern mit ADHS beim Lesen leichter zu machen? Brauchen sie eine bestimmte Umgebung?
Ja, die Leseumgebung spielt eine ganz große Rolle! Am besten schaut man, wo das Kind sich wohlfühlt und wo wenig ablenkende Reize vorhanden sind. Das ADHS-Gehirn ist ständig auf der Suche nach Reizen, die es ausreichend zünden. Daher lässt es sich schnell ablenken, wenn Außenreize mehr aktivieren als die aktuelle Tätigkeit. Man könnte also eine Ecke mit möglichst wenig Ablenkung gestalten, zu Hause etwa auf einem Sitzsack, mit eigener Leselampe; hilfreich sind oft auch geräuschabschirmende Kopfhörer. Die Wahrnehmung von Menschen mit ADHS ist meist stark im Außen und wenig auf sie selbst gerichtet. Hier kann Gewicht am Körper helfen, die Aufmerksamkeit mehr bei sich selbst und dem eigenen Tun als auf der Umgebung zu haben – zum Beispiel also eine Gewichtsdecke oder ein Gewichts-Kuscheltier. Natürlich ist das in der Schule schwerer umsetzbar, aber einige Elemente lassen sich vielleicht auch dort integrieren.
Du hast schon erklärt, dass bei Kindern mit ADHS Konzentration ein ganz entscheidendes Thema ist. Wie kann man es ihnen leichter machen, sich aufs Lesen zu konzentrieren?
Man muss Zünder finden, die das ADHS-Gehirn aktivieren. Das kann man über die Auswahl der Texte schaffen, wenn diese ein Lieblingsthema behandeln, aber zum Beispiel auch über kleine Aufgaben, die nach jedem Abschnitt zu lösen sind. Oder man sucht Wege, wie man einen Wettbewerbscharakter generieren kann. Das alles kann helfen, die Spannung und damit den Fokus von Kindern mit ADHS zu erhöhen.
Du hast schon über die Auswahl der Texte gesprochen. Kann man also speziellen Lesestoff oder Lesematerialien auswählen, der das Lesen leichter macht – oder spannender?
Auf jeden Fall! Intrinsisches Interesse ist einer der wichtigsten Faktoren. Schließlich ist bei ADHS oft ein höheres Motivations- und Spannungsniveau im Gehirn nötig, damit Kinder sich konzentrieren können. Das ist automatisch stärker gegeben, wenn es um ein Thema geht, das das Kind wirklich interessiert. Wenn möglich hilft es also, das Kind kennenzulernen: Wie tickt es, über welche Themen spricht es in der Pause, was erzählt es vom Wochenende? So oft wie möglich – gerade beim Lesenlernen – Texte zu Themen auszuwählen, von denen das Kind begeistert ist, trägt ganz wesentlich dazu bei, dass das Gehirn im nötigen Maß aktiviert wird.
Gibt es Tipps, wie das Lesen selbst so gestaltet werden kann, dass Kinder mit ADHS sich leichter tun? Gibt es Methoden, Strategien, Lesetechniken, die helfen können?
Da gibt es einige sehr gute Hilfsmittel – zum Beispiel ein Leselineal, das man an der Zeile entlangschiebt und das hilft, nicht in der Zeile zu verrutschen, sondern sich auf den Teil des Textes zu konzentrieren, der gerade gelesen werden soll. Es gibt auch ein Leseraster, das man über die Seite legen kann. Dabei ist in gewissen Abständen eine Schnur quer über den Text gespannt. Diese teilt längere Texte in überschaubare Abschnitte und gibt das Signal, an einer bestimmten Stelle innezuhalten und sich zu fragen „Was habe ich gerade gelesen?“ oder eine Frage dazu zu beantworten. Das Raster kann man auch nachahmen, indem man auf einer Buchseite an drei Stellen eine Markierung macht oder ein Pickerl aufklebt. Viele dieser Methoden gibt es inzwischen auch in Form von Apps.
Welche Rolle spielen Pausen und Bewegung, wenn es um Leseförderung für Kinder mit ADHS geht?
Oft stören Kinder mit ADHS, weil ihr Gehirn in einen Müdigkeitsmodus kommt und etwas braucht, das sie aufweckt. Am besten ist es, wenn man es schafft, dem zuvorzukommen. Wenn man gerade keinen Aufmerksamkeitszünder findet, ist es wichtig, regelmäßig Pausen zu machen. Wenn man die Möglichkeit hat, kann man den idealen Pausenrhythmus folgendermaßen ermitteln: Man beobachtet das Kind beim Lesen und misst die Zeit, bis es typischerweise die Aufmerksamkeit verliert. Wenn das meist nach etwa 20 Minuten passiert, dann führt man standardmäßig nach 17 Minuten eine kleine Pause ein, zum Beispiel von drei Minuten. So hakt man nicht erst dann ein, wenn das Kind bereits die Konzentration verloren hat, frustriert und müde ist, sondern schon davor, wenn ihm das Lesen noch Spaß macht und die Spannung noch da ist. Damit erhält man einen positiven Zugang zum Lesen aufrecht.
Welche Rolle spielt das Selbstvertrauen beim Lesen?
Das ist ein ganz wichtiges Thema, aber leider auch traurig: Eine Hochrechnung hat gezeigt, dass ein zehnjähriges Kind mit ADHS schon 20.000 Kritiksätze mehr gesagt bekommen hat als ein Kind ohne ADHS. Das muss gar keine riesengroße Kritik sein, aber kleine Signale zwischendurch: „Seid bitte still – auch du, Miriam!“ oder „Du brauchst wieder eine Extraeinladung.“. Das wirkt sich extrem aufs Selbstbewusstsein aus. Häufig bekommen sie zu hören: „Du bist ja nicht dumm, du könntest das schon. Du musst dich nur mehr bemühen.“ Dabei bemühen sich die Menschen mit ADHS ganz besonders, viele strengen sich bis zur Erschöpfung an, um Dinge so hinzukriegen, wie das Umfeld, der Schulalltag sie erfordern. Ihr Gehirn macht es ihnen einfach schwerer, sie müssen sich für dasselbe Ergebnis viel mehr anstrengen als ihre Mitmenschen ohne ADHS. Kinder mit ADHS bekommen also oft schon sehr früh den Eindruck, dass sie schlechter sind als andere, dass sie das ohnehin nicht hinkriegen. Das hat auch aufs Lesen einen großen Einfluss. Wenn ich nicht mehr davon ausgehe, dass ich das hinkriegen kann, wird es viel schwerer. Hier können Lehrkräfte einen ganz entscheidenden Unterschied machen. Sie können ermutigen und auch positives Feedback geben. Am besten passiert das möglichst spezifisch: Wo hat sich das Kind besonders angestrengt? Wo ist ihm etwas besser gelungen als gestern? In welchen Bereichen kann es etwas besser als andere? Dafür bewusst zu loben, hat eine große Auswirkung aufs Selbstbewusstsein.
Wenn Kinder sich schwer tun mit dem Lesen, ist es vielleicht verlockend, auf Text-to-Speech-Funktionen zurückzugreifen. Was hältst du davon?
Das hängt davon ab. Wenn es gerade wichtig ist, dass das Kind den Text inhaltlich versteht und ihm Hören leichter fällt als Lesen, ist das natürlich möglich. Aber als Kind ist es natürlich trotzdem wichtig, ins Lesen reinzukommen, eine Leseroutine zu finden und gut zu lernen, wie mir Lesen leicht fällt und Spaß macht. Text-to-Speech kann also kein Ersatz für Leseförderung sein!
Hilft eigentlich die offizielle Diagnose? Wenn Eltern oder Lehrkräfte den Verdacht haben, dass ein Kind ADHS hat, sollte man sich auf jeden Fall um eine Diagnose bemühen?
Ich finde, ja! Man muss das natürlich nicht machen, aber es ist schon aus verschiedenen Gründen sinnvoll. Vor allem hilft es, zu verstehen, warum manches so schwer fällt. Man bekommt Antworten, Erklärungen, aber auch vielfältige Hilfestellungen und Anleitungen. Es gibt schon so viele Erfahrungswerte, was anderen Menschen mit ADHS hilft. Davon kann man sich eine Menge abschauen. Ich würde aber empfehlen, zu einer wirklich auf ADHS spezialisierten Person zu gehen, damit auch weniger offensichtliche Fälle von ADHS nicht übersehen werden.
Heutzutage spricht man oft von Neurodivergenz – ADHS ist ein Unterbereich davon. Was ist das eigentlich genau?
Ich erkläre das mal anhand eines Beispiels. Vieles funktioniert bei vielen Menschen ähnlich. Ein warmes Bad nach einem anstrengenden Arbeitstag tut vielen Menschen gut. Da gibt es eine gehäufte Ähnlichkeit. Aber es gibt auch Menschen, die da anders funktionieren, die ein Bad in so einer Situation gar nicht entspannen würde. Diese Unterschiede entstehen in unserem Gehirn. Dabei spricht man von Neurodiversität. (Neuro- meint Nerven und Gehirn, Diversität ist die Vielfalt, das heißt also Vielfalt in unseren Gehirnen.) All unsere Gehirne funktionieren unterschiedlich, aber es gibt gehäufte Ähnlichkeiten. Manche Menschen sind eben nicht Teil dieser Häufung, ihre Gehirne reagieren anders als die meisten anderen auf bestimmte Situationen. Bei diesen Menschen spricht man von Neurodivergenz, also Abweichung in der Neurologie. Aber wie schon erklärt – diese Abweichungen benennt man nicht deshalb, damit Leute in Schubladen gesteckt werden, sondern damit man das, was Menschen mit ähnlich funktionierenden Gehirnen schon einmal geholfen hat, auch für sie ausprobieren kann.
Ich finde es jedenfalls schön, dass wir als Gesellschaft inzwischen in vielen Bereichen so weit sind, dass Menschen nicht alle gleich funktionieren müssen, sondern vielfältig sein dürfen!
Hier lässt sich das ganze Gespräch nachschauen:
Mag. Michaela Hartl ist ausgebildete Sonder- und Heilpädagogin. Als Mitgründerin von 8ung, einem Fortbildungs- und Coaching-Anbieter rund um Neurodivergenz, arbeitet sie als Autismus- und ADHS-Trainerin für Kinder wie Erwachsene, hält Vorträge und gibt Schulungen. Über den Verein Team ADHS und den Verband Neurodiversität schafft sie ehrenamtlich Angebote für Menschen mit ADHS und anderen Neurodivergenzen, für deren Angehörige und für Fachleute, die sich in diesen Bereichen engagieren.