Wenn wir von „prestigereichen Sprachen“ sprechen, so neigen wir zu vergessen, woher dieses Ansehen kommt.
Sprachen stehen nicht für sich, sondern erhalten durch Menschen ihre Wertigkeit. Dieses Ansehen wird am wirkungsvollsten geprägt, wenn Personen mit Vorbildwirkung und Autorität auf Kinder und Jugendliche treffen: Willkommen in der Schule.
SchülerInnen, Eltern und auch Lehrpersonen berichten mir regelmäßig von linguizistischen Praktiken (Anm.: Linguizismus bezeichnet Vorurteile, Geringschätzung oder eine nicht sachlich begründete Ablehnung gegenüber Sprachen und ihren SprecherInnen). Einmal erzählte mir ein Junge, dass die Klassensprecherin es der Lehrerin meldet, wenn Kinder Türkisch miteinander sprechen. Eine befreundete Lehrperson muss sich sogar vor ihren KollegInnen rechtfertigen, warum sie „sowas“ (nicht-deutsche Sprachen - sic!) in ihrer Klasse zulässt.
Sprache strukturiert unsere Gesellschaft. Wir sprechen häufig darüber, wie sich geringes Sprachprestige auf den Selbstwert von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen auswirkt. Aber wie wirkt sich „geringes Sprachprestige“ bestimmter Sprachen auf SchülerInnen aus, die davon nicht betroffen sind? Wir sollten stärker über die Vorbildwirkung für Kinder mit Deutsch als Erstsprache sprechen. Ihr Bild von der Schule ist häufig ein Ort, an dem sie als „native speaker“ jene sind, denen sich alle anderen sprachlich unterordnen müssen. Hannah Arendt beschrieb Macht im Sinne einer Ermächtigung, die jemandem verliehen wird. Die Lehrperson im oben genannten Beispiel verleiht bestimmten SchülerInnen Macht, sprachlich über andere zu bestimmen. Sprachprestige ist keine physikalische Gesetzmäßigkeit, die für sich existiert, sondern ein vorgelebtes Verhalten, das sich SchülerInnen bereits in der Schule (eigentlich schon früher im Kindergarten) aneignen.
Viele SchülerInnen in Österreich sind mehrsprachig. Und auch die österreichische Schule ist mehrsprachig. Englisch ist ein integraler Bestandteil des österreichischen Schulsystems. Je nach Schultyp können weitere Sprachen dazu kommen. Es entsteht die absurde Situation, dass SchülerInnen in der Pause für das Sprechen von bestimmten nicht-deutschen Sprachen ermahnt werden und mit Stundenbeginn eine andere nicht-deutsche Sprache lernen müssen. Was ist der Grund dafür, dass bestimmte Sprachen, die hunderttausende SchülerInnen in Österreich sprechen, einen so geringen Stellenwert im österreichischen Bildungssystem und in der Gesellschaft haben?
Englisch ist eine internationale Sprache. Französisch ist vor allem auf EU-Ebene sehr wichtig. Außerdem sei Französisch auch eine sehr schöne Sprache, heißt es oft. Im Grunde geht es um eine Kosten-Nutzen-Analyse. Jene Sprachen, die der Dominanzgesellschaft „nützlich“ erscheinen, sind auch gleichzeitig sogenannte „prestigereiche“ Sprachen. Der Umgang mit Sprachen leitet sich unter anderem durch den Umgang mit ihren SprecherInnen ab. Sprachprestige in der Schule lässt die Schlussfolgerung zu, welche SprecherInnen im österreichischen Bildungssystem und auch in der Gesellschaft hoch angesehen werden und welche nicht. Sprachprestige ist somit keine abstrakte Theorie, sondern hat Auswirkungen auf alle SchülerInnen und prägt unser gesellschaftliches Zusammenleben.
Eine Frage drängt sich dennoch auf: Wenn Schule und SchülerInnen in Österreich mehrsprachig sind, wie kann der Satz „In der Schule wird Deutsch gesprochen?“ dennoch seine Position im pädagogischen Alltag behaupten?
Wenn wir über Rassismus sprechen, verbinden wir damit häufig die bewusste Diskriminierung von Menschen aufgrund der sozialen Kategorie „Hautfarbe“. Die Erkenntnis, dass Rassismus auch verinnerlicht, unbewusst, unbeabsichtigt, ja sogar „gut gemeint“ sein und verschiedene Formen haben kann, sind zentrale Herausforderungen antirassistischer Bildung. Es ist oft schwierig, das Thema nüchtern und sachlich zu führen, weil Sprache und Emotion stark verknüpft sind. Gleichzeitig entsteht auch der Eindruck von Schuldzuweisung an Lehrpersonen.
Es handelt sich grundsätzlich um ein systemisches Problem. Lehrpersonen haben, als sie selbst SchülerInnen waren, Mehrsprachigkeit als Problem erlebt. Es wäre respektlos, eine Sprache zu sprechen, wenn jemand in Hörweite war, der diese Sprache nicht verstand, unabhängig davon, ob er/sie Teil der Konversation war oder nicht. In der Ausbildung sind Mehrsprachigkeit und Rassismus auch keine Ausbildungsschwerpunkte. Wir alle sind in einem Schulsystem und in einer Gesellschaft sozialisiert, in der wir sprachliche Ausschlusspraktiken beobachteten, haben und von ihnen geprägt wurden. Umso wichtiger ist es nun, diese Sozialisation kritisch zu reflektieren. Es ist wichtig, sich Wissen zum Thema Mehrsprachigkeit und Rassismus anzueignen.
Neben der offenen Diskriminierung von SchülerInnen aufgrund ihrer Sprache haben auch pädagogisch anmutende („Deutsch als gemeinsame Sprache“) und sprachwissenschaftlich anmutende („Damit Kinder Deutsch lernen“) Sprachgebote ihre Position in die Schule etabliert.
SchülerInnen können andere ausgrenzen. Ausgrenzung muss thematisiert werden. Wertschätzender Umgang ist aber nicht gesichert, nur weil alle SchülerInnen Deutsch reden. Wenn zwei Kinder in der Pause ein privates Gespräch auf Bosnisch führen, ist das kein Problem. Wenn diese Kinder in normaler Lautstärke miteinander Deutsch sprächen, würde sie niemand dazu auffordern, lauter zu sprechen, weil nicht alle in der Klasse verstehen können, was sie sagen. Es sei denn, es ist offensichtlich, dass sie über eine*n andere*n SchülerIn lästern. Kontext ist wichtig.
Es mag zwar gut gemeint sein, aber Sprachgebote sind kein geeignetes Mittel der Sprachförderung. Positive Motivation, Sprechfreude und positive Sprechanlässe sind dagegen effektive und wünschenswerte Methoden. Die Wirkung dieser gut gemeinten Sprachgebote (die einem Sprachverbot gleichkommen) ist die gleiche wie die der offenen Diskriminierung: es entstehen „Räume“, in denen bestimmte SprecherInnen mit bestimmten Sprachen keinen Platz haben. Die rassistische Parole „In Österreich wird Deutsch gesprochen! Geh da hin, wo du herkommst!“, die mehrsprachige Menschen zu hören bekommen, kommt nicht von ungefähr.
Sprachverbote kommen einer „Kriminalisierung der SchülerInnen“ gleich, weil das Sprechen bestimmter Sprachen bestraft wird. Die Schule nimmt in Form der Lehreperson die Rolle einer Kontrollinstanz ein. SchülerInnen lernen durch vorgelebtes Verhalten, welche Sprachen positiv verstärkt und welche bestraft werden. Sie lernen sich gegenseitig zu verdächtigen („Sie könnten über mich sprechen“), zu kontrollieren und zu ermahnen. Auch mehrsprachige SchülerInnen eignen sich dieses Verhalten an und ermahnen sich gegenseitig. Mehrsprachige SchülerInnen brauchen Sprechgelegenheiten und Wertschätzung in ihren Erstsprachen, stattdessen werden sie auf ihre Deutschkenntnisse reduziert.
Es ist wichtig zu erkennen, dass Lehrpersonen nicht die Möglichkeit haben, „neutral“ zu sein. Auch das Nicht-Eingreifen und Schweigen signalisiert SchülerInnen, welche Verhaltensweisen toleriert werden und welche nicht. Lehrpersonen müssen lernen, wie sie respektvollen Umgang miteinander vermitteln können. Mehrsprachigkeit ist nämlich Teil des Alltags. Ziel sollte sein, ein mehrsprachiges Bildungssystem zu gestalten, das SchülerInnen in ihrer sprachlichen Ganzheit erfasst und ihnen Raum für Mehrsprachigkeit bietet. Wenn wir uns in der Schule nicht an den Klang bestimmter Sprachen gewöhnen, werden wir diese Sprachen als Erwachsene weniger ertragen.
In meinen Seminaren zu Mehrsprachigkeit hatte ich häufig ausschließlich mehrsprachige Erwachsene, die in der Pause in unterschiedlichen Sprachen (Arabisch, Bosnisch, Deutsch, Farsi, Kroatisch, ... ) kommunizierten. Deutsch war die gemeinsame Sprache, die immer wieder zum Einsatz kam. Respektvolles mehrsprachiges Miteinander muss bereits in der Schule beigebracht werden. „Deutsch als gemeinsame Sprache“ ist ein wichtiges Element für das Zusammenleben, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Deutsch auch die Erstsprache der Mehrheit der SchülerInnen und Lehrpersonen ist. Die Herausforderung besteht darin, das Gleichgewicht der Gemeinsamkeit zu finden, ohne eine sprachliche Hierarchie zu etablieren.
Ali Dönmez ist Logopäde und therapiert vor allem mehrsprachige Kinder. Zudem bietet er Seminare für PädagogInnen zum Thema „Mehrsprachigkeit“ an. Im letzten Jahr hat er das Masterstudium „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ an der Uni Wien abgeschlossen. Seine Masterarbeit schrieb er zum Thema „Deutsch als Zweitsprache im Kontext Rassismus am Beispiel türkisch-deutschsprachiger Eltern mit Kindern im Kindergartenalter“.