Dirk Lange, Leiter des Demokratiezentrums Wien, erklärt, welche Fähigkeiten Jugendliche dafür brauchen, um mitbestimmen zu können, und wie Partizipationgelingen kann.
Dieser Artikel ist Teil des öbv-Whitepapers „Partizipation in der Schule“.
Demokratie lebt von Beteiligung. Niemand wird als Demokrat*in geboren. Die Erfahrung, dass Mitbestimmung etwas bewirken kann, und die Entwicklung eines Demokratieverständnisses entstehen nicht von selbst. Schulen sind der erste Ort, an dem junge Menschen diese Prinzipien erleben – oder eben nicht.
Die Vermittlung demokratischer Werte ist schon lange Teil des Bildungsauftrags. Warum ist Demokratiebildung gerade heute so wichtig?
Lange: Die großen Krisen der Gegenwart fordern unsere Demokratien. Sie erzeugen Befürchtungen und Ängste, die bei vielen Menschen die Sehnsucht nach schnellen Lösungen befeuern. In diesem Klima gewinnen antidemokratische Kräfte an Akzeptanz. Deshalb benötigen wir mehr Demokratiebildung denn je. Niemand wird mit den Fähigkeiten geboren, sich demokratisch auszudrücken, verschiedene Perspektiven anzuerkennen, Konflikte zu bewältigen und Kompromisse zu finden. Demokratiebildung muss daher ein zentraler Bildungsauftrag der Schule sein – und das Bildungssystem muss sich dieser Verantwortung stellen.
Was braucht es, damit Demokratiebildung gelingt?
Lange: Demokratiebildung hat zwei zentrale Dimensionen: Einerseits geht es darum, die politische Welt kritisch zu hinterfragen und die eigene Rolle in der Demokratie zu reflektieren. Andererseits ist sie ein fortlaufender Prozess, in dem Demokratie immer wieder neu gedacht und gestaltet wird. Demokratiebildung bedeutet also sowohl Demokratie lernen als auch Demokratie gestalten. Und gelungene Demokratiebildung bietet Schüler*innen echte Möglichkeiten, sich aktiv einzubringen, sei es durch Engagement, kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen oder durch das Übernehmen von Verantwortung.
Was sollten junge Menschen lernen, um demokratisch handeln zu können?
Lange: Besonders wichtig sind die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, kritisches Hinterfragen sowie Konflikt- und Kompromissbereitschaft. Nur so können unterschiedliche Haltungen verstanden, akzeptiert und gemeinsame Lösungen gefunden werden. Ebenso essentiell ist der Wille zur Mitgestaltung, denn Demokratie lebt von aktiver Beteiligung. Diese Fähigkeiten und ein demokratisches Grundverständnis entwickeln sich über die gesamte Lebensspanne hinweg. Schüler*innen möchten sich in der politischen Welt orientieren und Einfluss nehmen. Sie haben ein Recht auf politische Bildung – und dieses Recht müssen wir ernst nehmen und die notwendigen Kompetenzen vermitteln.
Was können Lehrkräfte tun, um demokratische Werte zu fördern?
Lange: Lehrkräfte können diverse Teile der Unterrichtsgestaltung zumindest teilweise demokratisieren. Sie können zum Beispiel zu den Schüler*innen Vertrauen aufbauen und ihre Fähigkeiten, Interessen und Erfahrungen im Unterricht mobilisieren. Denn Schüler*innen in die Auswahl von Aufgaben, Texten und Themen einzubeziehen und aktuelle Entwicklungen auf verständliche und kreative Weise aufzugreifen, das ist in vielen Fächern möglich.
Wo liegen die größten Herausforderungen der Demokratiebildung?
Lange: Eine zentrale Herausforderung besteht darin, mit der Vielfalt der Schüler*innen umzugehen: Sie ernst zu nehmen, mitzunehmen und zuzuhören – auch dann, wenn Diskussionen herausfordernd oder kontrovers sind. Junge Menschen suchen auch bei ihren Lehrkräften Vorbilder. Also gilt es Position zu beziehen, für die eigene Ansicht einzutreten, ohne die Schüler*innen zu ideologisieren. Unterschiedliche Ansichten sollen anerkannt werden, solange sie sich im Rahmen des Demokratischen bewegen. Denn, und das ist essentiell, Lehrkräfte sind demokratiepolitisch nicht neutral. Sie wirken menschenfeindlichen, rechtsextremen und antidemokratischen Phänomenen entgegen und orientieren ihr didaktisches Handeln an demokratischen Prinzipien.
Welche Rolle spielt Jugendpartizipation in einer Demokratie?
Lange: Demokratie braucht Partizipation – also Mitbestimmung, Teilhabe und Gestaltung. Umgekehrt gilt aber auch: Partizipation an sich ist nicht gleich Demokratie. Deshalb muss vor der Partizipation die demokratische Norm der Menschenrechte stehen. Also kurz gesagt: Alle sind zunächst gleichberechtigt.
Welche konkreten Methoden oder Formate können in der Schule zur Demokratiebildung genutzt werden?
Lange: Anhörungen, Mitgestaltungsmöglichkeiten rund um die schulische Kultur, aber auch Teilnahme an Projekttagen und schulischen Veranstaltungen zur kommunalen Öffentlichkeit und Politik fördern die Demokratiebildung. Darüber hinaus stärken mehr Austausch zwischen Lehrkräften und Schüler*innen sowie die aktive Beteiligung in Schüler*innen-Gruppen oder Steuergruppen die Mitbestimmung im Schulalltag. Der pädagogischen Fantasie sind dahingehend kaum Grenzen gesetzt. Trotz allem bedarf es, wie von der Regierung bereits angekündigt, eines eigenen Unterrichtsfachs, das sich mit zwei Wochenstunden der Demokratiebildung widmet.
Welche Maßnahmen kann die Bildungspolitik jetzt setzen, um Demokratiebildung und Partizipation nachhaltig zu fördern?
Lange: Die Strukturen der Lehrkräftebildung – fachlich wie überfachlich – sollten gestärkt und bei Bedarf ausgebaut werden. Außerdem müssen Netzwerke und Förderprogramme für Schulen geschaffen werden, um Jugendbildung zu entwickeln und zu etablieren. Gerade zu Letzterem sollte auch die Zivilgesellschaft mit ins Boot geholt werden: Stiftungen, Kammern, Verbände. Alle, denen an einer gedeihlichen Entwicklung unserer verfassten Demokratie gelegen ist, sollten sich hier engagieren und sollten nicht nur auf den Staat warten!
Prof. Dr. Dirk Lange,
Leiter des Demokratiezentrums Wien
Dirk Lange leitet das Demokratiezentrum Wien seit 2018. Er ist Universitätsprofessor für Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Wien und lehrt zugleich an der Leibniz Universität Hannover. Er wurde als Honorary Professor der University of Sydney ausgezeichnet und ist wissenschaftlicher Berater der Gesamtkonzeption „Demokratiebildung im österreichischen Parlament“.
Dieser Artikel ist Teil des öbv-Whitepapers „Partizipation in der Schule“.