59 2 SCHRIFTLICHE KOMPETENZ 1 MÜNDLICHE KOMPETENZ 3 TEXTKOMPETENZ 4 LITERARISCHE BILDUNG 6 SPRACHLABOR 5 MEDIALE BILDUNG VIEL | SEITIG 5 Der öffentliche Raum als Tauschplatz, entgegen kommerzieller Interessen – in Wien kein neuer Ansatz. Im Rahmen von Nachbarschaftshilfe und öffentlichen Kühlschränken werden Güter aller Art getauscht. Das ist auch dem Initiator und Betreiber des Bücherschrankes in Neubau, Frank Gassner, bewusst. „Wenn es etwas anderes als Bücher gegeben hätte, hätte ich es auch damit gemacht. Ich stelle mich nicht hin und sage: Die Leute müssen mehr lesen“, sagt der Künstler, von 1998 bis 2007 persönlicher Assistent von Hermann Nitsch. Trotzdem will er auf eine zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes aufmerksam machen. Als Beispiel führt er die Schanigärten in der Innenstadt an. Diese dürfen nun unter bestimmten Voraussetzungen auch im Winter öffnen: „Das ist eine Anmietung von öffentlichem Raum, wo der Restaurantbesitzer massive Gewinne macht. Wenn man sich anschaut, wie viel dafür gezahlt wird, ist das ein Witz“, ärgert sich Gassner. Die Preise in der Zone 1 (etwa Kärntner Straße, Stephansplatz) wurden von monatlich 7,50 auf 20 Euro pro Quadratmeter angehoben. Die Größe der Schanigärten beträgt laut dem Magistratischen Bezirksamt für den 1. Bezirk zwischen 2,3 und 144 Quadratmeter. Gassner selbst zahlt für die jährliche Grundbenutzung 40 Euro an die MA28. Sie verwaltet als Grundeigentümerin die öffentlichen Verkehrsflächen. […] So stehen auch die Bücherschränke für einen alternativen Weg. Einen, der nicht gewinnorientierte Interessen im Bezirk abbildet. Denn: „Das ist Raum, der uns allen gehört“, sagt der Absolvent der Akademie der bildenden Künste. Neben jenem in Neubau betreibt der Wiener einen Bücherschrank im Alsergrund und einen in Ottakring. „Die Reaktionen sind positiv. Die digitale Revolution findet nicht statt“, resümiert Gassner. Bücherschränke versus Flohmarkt Quert man die Burggasse über die Josefstädter Straße in Richtung Alser Straße, trifft man vor allem auf Pensionisten. Neugierige, die vom Einkaufen kommen, nicht selten echte Sammler. Geschichten von mehr als 3000 Büchern zu Hause wirken im ersten Moment unglaubwürdig. Beobachtet man aber die Akribie, die sie bei ihrer Suche an den Tag legen, verfliegt das rasch. Wer sein Sammlerherz jedoch zu sehr auslebt, kann Probleme verursachen. „Die Bücherschränke werden manchmal ausgeräumt. Das sind Sammler, verrückt nach Büchern“, erzählt Rosa, Anfang 60, beim Bücherschrank in der Zieglergasse. So würden die Bücher auf Flohmärkten oder in Antiquariaten verkauft. „Es sind schon Fäuste geflogen, wenn man fragt, was sie da machen“, sagt die Frau. Ein Vorwurf, der sich andernorts erhärtet: „Es gibt oft nur Schmarrn, weil viele Professionelle die Bücher verkaufen“, sagt Rudolf. Er steht am Josef-Matthias-Hauer-Platz in der Josefstadt und fischt sich ein „Spiegel“-Magazin aus dem Bücherschrank. Im Gegensatz zu jenem in Neubau ist er mit rund 50 Büchern schlecht gefüllt und in Kategorien unterteilt: etwa Krimis, Kinderliteratur, Belletristik. Errichtet wurde er 2013 von der Bezirksvertretung, Kosten: 7000 Euro. Rudolf erzählt von einem älteren Herren, der regelmäßig mit einem Einkaufswagen kommt, Bücher einsammelt, diese zu Hause abstempelt und wieder in den Schrank gibt. Um so den Verkauf etwas einzudämmen. Derartige Eigenheiten passen gut in das Grätzl-Bild. Schrank-Betreiber Gassner stört das Ausräumen reichlich wenig: „Man bekommt 50 Cent für ein Buch. Das sind offensichtlich Leute, die unter der Armutsgrenze leben. Zu sagen, du darfst das nicht, wäre Blödsinn“, hat er einen anderen Erklärungsansatz als die Passanten. Es ist etwas anderes, das ihn aufregt: die Bezirksvorstehungen Neubau und Alsergrund. Die Fronten haben sich hier die letzten Jahre verhärtet. Dabei im Mittelpunkt: Wer darf sich den Erfolg eines künstlerischen Werkes im öffentlichen Raum an die Fahnen heften? Wer ist für den Erhalt einer solchen Privatinitiative verantwortlich? Auf den ersten Blick scheint die Interessenslage bei Errichtung eines privaten Bücherschrankes klar verteilt: Der Bezirk unterstützt es, da er etwas Passendes für seine Bewohner will. Der Künstler wiederum möchte etwas Eigentümliches schaffen, fernab von jedem Kommerz. Was sich nicht unbedingt ausschließt, wurde trotzdem zum Fallstrick. Denn laut Gassner trieben es die Bezirke zu weit: „Ich habe gelernt, wie Wien funktioniert. Der öffentliche Raum ist der Aufmarschplatz der Bezirkspolitik. Wenn jemand dort was macht, muss sie damit was zu tun haben“, sagt er zynisch. […] https://www.tagblatt-wienerzeitung.at/nachrichten/ chronik/wien-chronik/873702-Nostalgiefaktor-Buch.html (abgerufen am 11.09.2024) 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115 120 125 130 135 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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