viel|seitig 5, Schulbuch [Prüfauflage]

139 2 SCHRIFTLICHE KOMPETENZ 1 MÜNDLICHE KOMPETENZ 3 TEXTKOMPETENZ 4 LITERARISCHE BILDUNG 6 SPRACHLABOR 5 MEDIALE BILDUNG VIEL | SEITIG 5 Textbeilage Euripides – Medea, die Urfeministin Vor Kurzem hat eine 36-jährige Mutter ihren siebenjährigen Sohn mit 17 Messerstichen im türkisch besetzten Teil Zyperns umgebracht. Danach versuchte sie erfolglos, sich selbst zu töten. Es wird angenommen, dass sie das Verbrechen beging, weil der Vater die Vormundschaft des Kindes übernehmen wollte. In der Berichterstattung ist von „einer modernen Medea“ die Rede, die nichts Geringeres als die Todesstrafe verdient habe. Die mythologische Medea aber wurde nicht zum Tode verurteilt, im Gegenteil: Ihre Verbrechen wurden nie gesühnt. […] Von Christina Baniotopoulou | 6. Juni 2018 Betrogen und alleingelassen Alle anderen hingegen befällt bei der Nennung dieses Namens offenbar das blanke Grauen. Warum das so ist, habe ich nie verstanden. An der Etymologie29 des Wortes kann es jedenfalls nicht liegen. Das Verb medein deutet darauf hin, dass Medea so viel bedeutet wie: Ratgeberin, Beschützerin oder Herrscherin. Insofern liegt der schlechte Ruf des Namens einzig und allein in Euripides’ Tragödie begründet. […] Medea, Tochter eines Königs, verliebt sich unsterblich in Iason, den Anführer der Argonauten. Ihm zuliebe zerstückelt sie ihren eigenen Bruder und hilft Iason30, König Pelias umzubringen. Beide finden in Korinth einen Zufluchtsort und bringen zwei Söhne auf die Welt. Kurz darauf aber verlässt Iason Medea für die Tochter des Königs von Korinth. An diesem Punkt beginnt die eigentliche Geschichte der Medea. Die Heldin fühlt sich betrogen, alleingelassen, als eine entwurzelte Barbarin in einer ihr fremden Welt. In Korinth ist sie jetzt Persona non grata30, dort kann sie nicht mehr bleiben, und zurück in ihre Heimat kann sie auch nicht mehr gehen. Sie opferte das Wertvollste Sie ist aber eine intelligente Frau und weiß um ihre größte Macht: ihre beiden Söhne. Also tut sie das Grausamste, was eine Mutter tun kann: Sie bringt ihre eigenen Kinder um. […] Die Tat begeht sie nicht aus Rache oder Eifersucht, sondern aus ideologischen Gründen. Medea ist eine Revolutionärin, die um ihre Ideologie betrogen wurde. Sie glaubte an die bedingungslose Liebe, wie sie einst von Iason verkörpert wurde. Für diese Liebe opferte sie ihre Herkunft, ihren königlichen Status, ihren Bruder. Und als Revolutionärin, deren Glaube sich als eine Illusion entpuppt, opfert sie am Ende das Wertvollste: ihre Kinder. Ihr Akt ist das erste rein feministische Verbrechen aller Zeiten. „Hinter jedem Suizid steckt ein Mord“, so ist es von Sigmund Freud überliefert. Im Falle von Medea muss man diesen Satz jedoch andersherum lesen. Denn hinter dem Mord der Kinder steht der Suizid der Mutter. Medea tötet nicht nur ihre Söhne, sie nivelliert auch ihre weibliche Natur auf eine abstoßende, vulgäre Art. Mit manischer Entschlossenheit vernichtet sie den heiligsten Ursprung der weiblichen Natur, das Muttersein. Und so wird sie zu einem zeitlosen Sinnbild. Ein hoher Preis für die Freiheit […] Medea ist eine Pionierin im Ringen für Gleichberechtigung. Und trotz der ständigen Namensassoziation mit einer Kindsmörderin – als Resultat eines jahrhundertealten Patriarchats – hat Euripides (ein Mann) sie nicht als Täterin, sondern als Opfer betrachtet. Denn sie wird weder einer menschlichen noch einer göttlichen Strafe unterzogen, wie es in der griechischen Tragödie üblich ist. Medea darf fliehen. […] Der modernen Medea aus Zypern kann aber kein Dichter, und erst recht nicht die Gesellschaft, einen goldenen fliegenden Wagen schicken. Sie wird auf Erden als Kindsmörderin bestraft. Die größte Strafe hat sie sich aber selbst auferlegt, in Form ihres gescheiterten Suizidversuchs. https://www.zeit.de/kultur/2018-06/euripides-medea-­ feminismus-gleichstellung-kindermord-zypern-10nach8 (abgerufen am 12.09.2024) 1 5 29 Geschichte eines Wortes und seiner Bedeutung 10 30 alternative Schreibweise: Jason 15 20 31 eine nicht gern gesehene Person 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==