viel|seitig 5, Schulbuch [Prüfauflage]

134 VIEL | SEITIG 5 Der Medea-Stoff bei Euripides Medea ist eine der schillerndsten Figuren der antiken Tragödie. Ihre Berühmtheit verdankt sie nicht zuletzt dem Umstand, dass ihr Schicksal bzw. ihre Taten so unfassbar grausam waren. Bis heute wird der literarische Stoff16 auf den größten internationalen Bühnen der Theaterwelt inszeniert17. Der Inhalt zu Medea stammt aus der griechischen Mythologie18. Das trifft auf die meisten antiken Theaterstoffe zu. Als Folge davon finden sich immer mehrere, unterschiedliche Varianten zu ein und derselben Geschichte. So auch bei Medea. Sie war bereits in den ältesten Überlieferungen eine Königstochter und Zauberin und Bestandteil der Argonautensage. Dies ist die mythologische Erzählung, die von der Fahrt des Jason und seiner Begleiter nach Kolchis im Kaukasus, der Suche nach dem Goldenen Vlies und dessen Raub handelt. Weitere Erzählvarianten schildern Medeas Wirken in Korinth und Athen. In diesen Überlieferungen ist Medea noch nicht die Figur, die wir heute kennen. Als Zauberheldin wird sie in den überlieferten Varianten immer dunkler, bis der griechische Dichter Euripides jene Medea schreibt, die bis heute nachwirkt: Medea, die nach dem Verrat ihres Mannes Jason aus Rache, aber mit klarem Kopf, sogar ihre eigenen Kinder tötet. Gänzlich neu – und auch schon sehr modern – an dieser Medea ist, dass Euripides die Figur psychologisiert. Das heißt, wir lernen Medea als eine Frau kennen, die aus inneren, nachvollziehbaren Motiven handelt. Doch genau das sorgt bis heute für heftige Diskussionen: Wie kann man den Mord an den eigenen Kindern mit Argumenten rechtfertigen? Ist Medea gar eine Vorkämpferin für Frauenrechte, eine erste Feministin? Dazu gehört auch das vieldiskutierte Ende von Medea bei Euripides: Medea kommt am Ende ungeschoren davon und wird sogar durch einen Gott gerettet, der sie mit einem Wagen aus der Gefahrenzone bringt. So etwas kommt zwar in griechischen Tragödien öfters vor (man nennt diesen „Trick“ auch „deus ex machina“, also der Gott aus der Maschine), doch hier wird diskutiert, ob so eine Rettung für eine Kindsmörderin wirklich angebracht sei. Euripides schrieb seine Medea 431 v. Chr. für einen musischen Agon19 und erhielt dafür keinen Preis, was dem späteren Erfolg seiner Dichtung aber offensichtlich nicht geschadet hat. Bereits in der Antike setzten sich große Dichter und Denker mit seiner Medea-Fassung auseinander, wie z. B. Aristoteles, Ovid oder Seneca. Auch in der Moderne20 fanden sich namhafte Literaten und Literatinnen, die sich mit dem Medea-Stoff und der Ausgestaltung durch Euripides beschäftigten, wie etwa Franz Grillparzer, Jean Anouilh oder Christa Wolf. Eine breite Rezeption21 in Musik und bildender Kunst belegt ebenfalls die Popularität des Stoffes. Heute zählt Medea zu den am meisten gespielten klassischen22 Stücken auf deutschsprachigen Theaterbühnen. Büste von Euripides 16 Kern bzw. Grundstruktur der Geschichte 17 ein Stück für die Bühne aufbereiten 18 Gesamtheit aller Erzählungen von Göttern und Göttinnen sowie Helden und Heldinnen des antiken Griechenlands Medea-Aufführung im Wiener Volkstheater 22 hier im Sinne von „der Antike zugehörigen“ 21 Aufnahme und Verarbeitung 20 Die Moderne beginnt in der Dichtung Europas bereits im 19. Jahrhundert. 19 Wettkampf für Dichtkunst, Musik oder Tanz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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