110 VIEL | SEITIG 5 Lies den Kommentar „Lesen bildet? Von wegen: Wir lesen zwar viel – aber das Falsche!“ von Johannes Bruggaier aufmerksam durch. Lesen bildet? Von wegen: Wir lesen zwar viel – aber das Falsche! […] Es wäre an der Zeit, wieder mehr Romane zu lesen. Von Johannes Bruggaier | 27.11.2019 Lesende Jugendliche Wenn die Aufklärung ihre damals gegebenen Versprechen eingelöst haben soll, dann müssten Toleranz2, Verständnis und Demut3 heute täglich gelebte Werte unserer Gesellschaft sein. Denn das Lesen, so lautete die seit dem 17. Jahrhundert verbreitete Hoffnung, bilde den Menschen, forme ihn zu einem reflektierenden, vernunftgeleiteten Wesen. Und gelesen wird heute tatsächlich – mehr als je zuvor: auf Smartphones und Tablets, in Suchmaschinen und den sozialen Netzwerken. […] Beim Lesen von Romanen oder Novellen erschafft sich der Leser eine neue Welt. Jedes Sprachbild, jede Figur und jede Szene will interpretiert werden. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie erklärte es […] einmal am Beispiel des Begriffs Vater. „Taucht er in einem Text auf, so entstehen in Ihrem Kopf völlig andere Bilder als in meinem“, sagte sie. Welche Persönlichkeit sich ein Leser unter Vater vorstellt – ob es ein herrischer oder ein gütiger Charakter ist –, das hängt von seiner ganz eigenen Prägung und Lebenserfahrung ab. […] Wer Romane liest, erkennt, dass ein Ding von verschiedenen Seiten gleichermaßen wahr sein kann. Oder wie es der Maler Pablo Picasso formulierte: „Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“ Es gibt kein besseres Training für Toleranz und Demut als das Lesen von Prosatexten. Informierende Literatur wie Sachbücher oder auch journalistische Texte aktivieren unsere Fantasie in deutlich geringerem Umfang. Kirsten Boies fiktive Vaterfigur müssen wir uns erst geistig erschaffen: ihr Aussehen, ihre Stimme, ihr ganzes Auftreten. Bei real existierenden Personen wie US-Präsident Donald Trump dagegen ist das nicht nötig. Weil ihr Erscheinungsbild bereits allgemein bekannt ist, gleichen einander auch unsere individuellen Lektüreergebnisse. Wer allein informierende Literatur liest, gewöhnt sich deshalb an einen absoluten Wahrheitsbegriff. […] Bei der Belletristik geht es um Sinnerfassung und gleichzeitige Konstruktion einer fiktiven Wirklichkeit. Bei informierender Literatur geht es allein um Sinnerfassung. Beim reinen Durchsuchen von Texten dagegen geht es nicht mal mehr um das. Was zählt, ist der flüchtige Kick einer flüchtigen Emotion: die Empörung über andere Überzeugungen, die Freude über Wortmeldungen von Gleichgesinnten. […] Das Lesen allein mag uns zwar Kompetenzen bringen, aber noch lange nicht Vernunft: Wir sollten alle wieder mehr Romane lesen. https://www.suedkurier.de/ueberregional/kultur/ Lesen-bildet-Von-wegen-Wir-lesen-zwar-viel-aber-das- Falsche;art10399,10362185 (abgerufen am 12.09.2024) Infobox In der Epoche der Aufklärung von 1720 bis 1800 veränderte sich das Denken der Menschen und richtete sich gegen Aberglauben, Willkür und Vorurteile hin zu vernünftigem Denken und Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnisse. A 11 1 2 andere so sein und denken lassen, wie es ihnen gefällt, ohne sie dafür zu bewerten 3 Hinnehmen von Gegebenheiten 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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