52 5 Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg Kämpfe um Besserstellung: Arbeiterinnen | 19. Jahrhundert In „Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ (1909) schildert die österreichische Publizistin und sozialistische Politikerin Adelheid Popp (1869–1939) ihre Lebensgeschichte. Wir erfahren darin zum einen, wie aus dem armen Arbeiterkind, das schon im Alter von 10 Jahren zur Lohnarbeit gezwungen war, eine politisch engagierte und höchst erfolgreiche Frauenrechtlerin geworden ist. Zum anderen berichtet Popp aufschlussreich über den Kampf um soziale und rechtliche Besserstellung vor allem der Arbeiterinnen in der Habsburgermonarchie am Ende des 19. Jh. Aus Adelheid Popps „Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin“: 1. Durch ihre Brüder bekam die 16-jährige Adelheid Kontakt zu sozialdemokratischen Arbeitern. Regelmäßig las sie von da an die Parteizeitung der Sozialdemokraten und besuchte Parteiversammlungen. Doch anfangs schien Politik für sie eine reine Männersache zu sein: Von der „Frauenfrage“ hatte ich noch immer keine Ahnung. Darüber stand nichts in der Zeitung (…). Ich kannte auch keine Frau, die sich für Politik interessiert hätte. Ich galt als eine Ausnahme und betrachtete mich selbst als eine. Die soziale Frage, wie ich sie damals verstand, hielt ich für eine Männerfrage und ebenso die Politik. Nur hätte ich gerne ein Mann sein mögen, um auch ein Anrecht auf die Beschäftigung mit Politik zu haben. Dass die Sozialdemokraten den Frauen die Gleichberechtigung mit dem Manne erkämpfen wollen, erfuhr ich zum ersten Mal, als ich nach dem Hainfelder Parteitage [1888/89; Anm. d. A.] (…) das sozialdemokratische Programm las. Wie aber Frauen selbst an den Parteibestrebungen mitarbeiten könnten, wusste ich noch nicht (…). Mir war durch die Versammlungen eine neue Welt erschlossen worden und alles in mir drängte nach eigener Betätigung. Ich wollte mithelfen und mitkämpfen und wusste doch nicht, wie ich das anfangen sollte (…). Ich (…) war der Meinung, dass man mit Männern über Politik mehr reden könnte, als mit Frauen. Wie sehr ich die politische Reife der Männer überschätzt hatte, erfuhr ich nur zu bald. 2. 1891 konnte Adelheid in ihrer Fabrik erstmals den 1. Mai als Feiertag durchsetzen: Den nächsten 1. Mai feierte auch ich. Keinen Tag ruhte ich, ohne dafür Propaganda zu machen (…). Unter meinen Kolleginnen waren einige, die mit Werkmeistern verwandt waren und daher eine bevorzugte Stellung einnahmen. Diese hatte ich für den 1. Mai gewonnen, ich hatte sie für die Ziele, denen die Arbeitsruhe galt, begeistert und sie ließen sich in die Deputation [= Abordnung; Anm. d. A.] wählen, die unserem Arbeitgeber das Ansuchen um Freigabe des Arbeiterfeiertages zu unterbreiten hatten. Es war eine kleine Revolution! (...) wir bekamen den Arbeiterfeiertag unter der Bedingung frei, dass wir all jenen, welche nicht feiern wollten, den Lohnverlust zu ersetzen hatten. Wir plünderten unsere Sparkasse, die wir uns für Weihnachten angelegt hatten, da sich drei Kollegen gefunden hatten, die sich nicht schämten, sich den freien Tag von uns bezahlen zu lassen. 3. Kurz danach hielt Adelheid ihre erste öffentliche Rede: Die Versammlung war von 300 Männern und von 9 Frauen besucht (…). Ich sprach von den Leiden, von der Ausbeutung und von der geistigen Vernachlässigung der Arbeiterinnen (…). Ich sprach über alles das, was ich an mir selber erfahren und an meinen Kolleginnen beobachtet hatte. Aufklärung, Bildung und Wissen forderte ich für mein Geschlecht und die Männer bat ich, uns dazu zu verhelfen. Der Jubel in der Versammlung war grenzenlos (…); man (…) forderte mich auf, so wie ich gesprochen habe, solle ich für das Fachblatt einen Artikel an die Arbeiterinnen schreiben. Das war nun freilich eine böse Sache. Ich hatte ja nur drei Jahre die Schule besucht, von Orthographie und Grammatik hatte ich keine Ahnung und meine Schrift war wie die eines Kindes (…). Doch versprach ich, mich zu bemühen (…). Den Artikel (…) schrieb ich; er war klein und nicht gewandt im Ausdruck (…). 4. Adelheids Arbeitgeber verbot ihr in der Fabrik jegliche politische Betätigung: Trotzdem es mein Vorsatz war, die Worte des Fabrikanten zu beherzigen und mich in der Fabrik nicht agitatorisch [= politisch werbend; Anm. d. A.] zu betätigen, konnte ich das nicht vermeiden. Denn manches war schlechter geworden (…). In anderen Fabriken arbeitete man unter dem Einfluss der Maifeier nur mehr zehn Stunden, wir aber noch immer elf. Das sollte eine Strafe dafür sein, dass wir gewagt hatten, den 1. Mai zu feiern. Darin unterschied sich mein Arbeitgeber gar nicht von so vielen anderen Fabrikanten. Er fühlte sich als Herr und Brotgeber und die Arbeiter sollten alles seiner Großmut und Gnade zu danken haben. Weil wir einmal gewagt hatten, aus eigener Initiative eine Handlung zu vollführen, die nicht seine Billigung fand, mussten wir bestraft werden. Erst als ich nicht mehr in der Fabrik war, wurde die Arbeitszeit um eine Stunde verkürzt, den Arbeitern und Arbeiterinnen wurde aber zugemutet, sich mit ihrer Unterschrift zu verpflichten, dass sie mit mir und den sozialistischen Bestrebungen nichts mehr zu tun haben wollten. 5. Adelheid beschreibt, was ihre Mutter von ihrer politischen Tätigkeit hielt: Meine Mutter hatte keine Freude an meiner veränderten Lebensstellung. Ihr wäre lieber gewesen, wenn ich in der Fabrik geblieben wäre und dann geheiratet hätte. Die alte Frau, (…) die unter schrecklichen Verhältnissen alle zwei Jahre ein Kind geboren hatte, das sie dann sechzehn bis achtzehn Monate an ihren Brüsten nährte, um länger vor einem neuen Wochenbett bewahrt zu bleiben, diese Frau, die verkümmert und frühzeitig von harter Arbeit gebeugt war, konnte sich für ihre Tochter kein anderes Los vorstellen, als eine gute M1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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