14 1 Die Antike Welt – Griechenland und Rom Dekonstruktion: Untergang des römischen Reiches | Spätantike Die Auflösung des römischen Imperiums während der Völkerwanderungszeit war ein historisches Ereignis von ungeheurer Tragweite: sowohl ein Großreich als auch eine Kulturepoche, die Antike, gingen damit zu Ende. Daher verwundert es nicht, dass Historikerinnen und Historiker über die Gründe des Untergangs immer wieder von neuem nachdenken. Meist wird nicht nur eine einzige Ursache für den Untergang verantwortlich gemacht. Viele Historikerinnen und Historiker erachten unterschiedliche Gründe als wichtig und entscheidend. Solche sind zum Beispiel: Aberglauben, Bleivergiftung, Christentum, Verarmung, Wohlstand und Zweifrontenkrieg. Wie die beiden Beispiele „Verarmung“ und „Wohlstand“ zeigen, werden manchmal auch völlig entgegengesetzte Ansichten als bedeutsamste Ursachen angeführt. Die Darstellung der historischen Ereignisse hängt also wesentlich von der Bewertung der Geschichtsquellen durch die einzelnen Forscherinnen und Forscher ab. Sie schreiben denselben Quellen oftmals eine etwas andere Bedeutung zu, ziehen andere Quellen heran oder entdecken sogar neue Quellen. Das führt dazu, dass bisherige Sichtweisen eines Geschehens, wie z.B. der Untergang Roms, neu bewertet werden. Forscherinnen und Forscher decken Schwächen oder Fehler veralteter Geschichtsdarstellungen auf, dekonstruieren also unser bisheriges Verständnis von einem bestimmten Ereignis. Der Historiker Alexander Demandt hat bei den 227 Gründen, welche von den Forscherinnen und Forschern für den Fall Roms bisher angegeben wurden, die Für und Wider kritisch abgewogen. Durch seine Dekonstruktionen schuf er bessere Voraussetzungen für künftige Erklärungsversuche. Demandt über das Christentum als Ursache: Betrachten wir zunächst jene Autoren, die glauben, dass das Christentum einen großen Einfluss auf den Untergang Roms hatte. Viele moderne Historiker halten die christliche Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod, die Verweigerung von Staatsdienst und Wehrpflicht für sehr schädlich für den Staat. Der Einfluss des Christentums auf den Zerfall Roms wird nur von solchen Autoren betont, die entweder das römische Reich oder aber die Kirche ablehnen. Wer das römische Reich positiv sieht, betrachtet die Rolle des Christentums im Zerfall des Reiches als traurig und als Schuld. Wer auf Seiten der christlichen Menschen steht, findet den Zerfall des Reiches gut und einen Verdienst der Christen. Es scheint, als ob in letzter Zeit den Christen seltener die Schuld am Untergang Roms gegeben würde. Denn immerhin existierte der christliche Osten (Byzanz) noch sehr lange und auch die Germanen waren Christen. (nach: Demandt, Alexander: Zeitenwende. Aufsätze zur Spätantike. Berlin, Boston 2013, S. 139 f. sprachlich stark vereinfacht) Über Verarmung und Wohlstand: Bei der Erklärung für den Zerfall des römischen Reiches geht die Forschung meist von Faktoren aus, die Gesellschaft und Wirtschaft gemeinsam betreffen: von den Gegensätzen zwischen der Verarmung der Massen und dem Wohlstand Weniger, von der Verarmung der Landbevölkerung und dem Luxusleben der Senatoren. Doch die ungleiche Verteilung des Besitzes in Rom kann den Zerfall nicht erklären. Denn einerseits lag der Lebensstandard des einfachen Landbewohners sicher noch über dem des einfachen Menschen außerhalb des Reiches, und anderseits gab es in der germanischen Gesellschaft ähnliche Besitzunterschiede wie bei den Römern. Heute meinen Historiker, die Senatoren hätten mit ihrem Geld die Verteidigung Roms durch germanische Söldner bezahlen können. Aber hätte eine größere Zahl germanischer Söldner nicht genau die Gruppe gestärkt, die das Reich dann gesprengt hat? (nach: Demandt, Alexander: Zeitenwende. Aufsätze zur Spätantike. Berlin, Boston 2013, S. 140 u. 142; S. 352; Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. 2. erw.u.akt.Aufl., München 2014, S. 633; stark vereinfacht und gekürzt.) Über Naturerscheinungen: Naturerscheinungen sind immer wieder beliebt. So werden neben der Pest noch immer Seuchen für weitere Gesundheitsschäden verantwortlich gemacht: Das Wall Street Journal hatte 1983 behauptet, Bleivergiftung würde zu Impotenz führen. Das wurde eindeutig widerlegt. Ein anderer Forscher behauptete im Jahr 2001 dasselbe von Malaria. Diese Theorie war bereits 1907 in die Welt gesetzt worden. 2006 wurde eine Umweltkrise aufgrund eines Vulkanausbruchs auf Neuseeland für den Untergang Roms verantwortlich gemacht. Andere Forscher meinten in den 1990-er Jahren, ein Kälteeinbruch habe um 400 die germanische Völkerwanderung ausgelöst. Doch die war zu dieser Zeit längst im Gange. Die Ausbreitung der Germanen zog sich über sehr lange Zeit. Dafür reicht keine punktuelle Erklärung aus. Aber naturwissenschaftliche Erklärungen sind natürlich spektakulär. (nach: Demandt, Alexander: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. 2. erw.u.akt.Aufl., München 2014, S. 634; stark vereinfacht und gekürzt.) Demandts eigener Erklärungsversuch: „Ohne die germanischen Angriffe ist der Zerfall des römischen Reichs nicht zu erklären.“ Intensive Forschungen beweisen das wechselnde Verhältnis zwischen Germanen und Römern: Die armen, kinderreichen und kriegerischen Germanen und die reichen, kinderarmen und friedliebenden Römer konnten nicht zusammenleben. Rom ging nicht durch die Fehler unfähiger Männer, nicht am Luxus und schlechten Sitten zugrunde. Man kann den Römern auch nicht vorwerfen, dass sie die militärische Sicherheit sträflich vernachlässigten. Eine rechtzeitig verstärkte Einbürgerung der Germanen hätte vielleicht geholfen. Doch die zunächst zuversichtlich begonnene Integration scheiterte. Ob das am Verhalten der Germanen oder dem der Römer lag, ist unklar. (nach: Demandt, Alexander: Zeitenwende. Aufsätze zur Spätantike. Berlin, Boston 2013, S. 147 u. 359; Ders.: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. 2. erw. u. akt. Aufl., München 2014, S. 636; Kürz. u. Vereinf. d. A.) M1 M2 M3 M4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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