Zeitbilder 5, Schulbuch

Die Auseinandersetzung mit den schriftlichen und bildlichen Quellen in diesem Kapitel dient dazu, Historische Methodenkompetenz weiterzuentwickeln. Quellen sind immer von der Sichtweise ihrer Verfasserinnen bzw. Verfasser geprägt. In diesem Kapitel z.B. liegt allen Texten eine für mittelalterliche Menschen typische Perspektive zugrunde: die unhinterfragte, selbstverständliche Einordnung der Menschen in die verschiedenen Stände im Feudalsystem. Um Quellen angemessen analysieren und interpretieren zu können, sollte man die jeweils zugrundeliegende Sichtweise und die Absicht der Verfassserin bzw. des Verfassers klären. Noch im ausgehenden 15. Jh. beruft man sich auf die traditionelle Ständelehre, wie der Holzschnitt von Jacob Meydenbach verdeutlicht: Christus teilt den drei Ständen ihre Aufgaben zu: Links: Tu supplex ora (Du sollst demütig beten), rechts: Tu protege (Du sollst beschützen), unten: Tuque labora (Und du sollst arbeiten). Der Holzschnitt von Jacob Meydenbach erschien im Buch „Prognosticatio“ (Vorhersage) des Pfarrers und Astrologen Johannes Lichtenberger, das 1488 erstmals aufgelegt wurde. Eine ähnliche Auffassung wie Bischof Adalbero v. Laon (um 1030) über die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Ständen (vgl. S. 91) vertritt bereits Bischof Burchard von Worms (1008–1012): Wegen der Sünde des ersten Menschen ist dem Menschengeschlecht durch göttliche Fügung die Strafe der Knechtschaft auferlegt worden, so dass [Gott] denen, für die, wie er sieht, die Freiheit nicht M1 M2 10. Feudalismus passt, in großer Barmherzigkeit die Knechtschaft auferlegt. Und obgleich die Erbsünde durch die Gnade in der Taufe allen Gläubigen genommen ist, hat der gerechte Gott das Leben der Menschen so unterschieden, indem er die einen zu Knechten, die anderen zu Herren einsetzte, damit die Möglichkeit zu freveln für die Knechte durch die Macht der Herren eingeschränkt würde. (Zit. nach: Franz, Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes, 1974, Nr. 48) Zwei Äbtissinnen adeliger Herkunft thematisieren im 12. Jh. ihre unterschiedlichen Auffassungen über die Verschiedenheit der Stände: Tenxwind, genannt Lehrerin der Schwestern von Andernach, wünscht Hildegard (v. Bingen), Lehrerin der Bräute Christi, dass sie einst mit den höchsten himmlischen Geistern verbunden sei. Die weit fliegende Fama hat unseren Ohren bewundernswürdiges und staunenswertes von der Hochschätzung Eurer berühmten Heiligkeit getönt und unserer Geringfügigkeit die Vollkommenheit höchster Frommheit und Eurer Einzigartigkeit sehr empfohlen. [...] Es erscheint uns aber [...] verwunderlich [...], dass Ihr in Eure Gemeinschaft nur von Geburt aus Ansehnliche und Freie aufnehmt, anderen, die nicht adlig und weniger reich sind, jedoch die Gemeinschaft mit Euch gänzlich verweigert. So stocken wir, [...] da wir in unserem Sinn bedenken, dass der Herr selbst in der Urkirche Fischer, kleine und arme Leute ausgewählt hat und der heilige Petrus, nachdem später die Völker zum Glauben bekehrt waren, gesagt hat: „Ich habe in Wahrheit erfahren, dass Gott nicht die Person ansieht“ (Apostelgeschichte 10,34). Antwort Hildegards (von Bingen): [...] Gott unternimmt auch bei jeder Person eine genaue Unterscheidung, so dass der geringere Stand nicht über den oberen steigt. So haben es Satan und der erste Mensch getan, die höher fliegen wollten, als sie gestellt waren. Und welcher Mensch sperrt seine ganze Herde in einen Stall, also Rinder, Esel, Schafe, Böcke, sodass sie sich nicht unterscheiden? Deshalb herrsche Unterscheidung auch darin, dass nicht unterschiedliche Leute in eine Herde zusammengeführt sich in Überheblichkeit und in der Schande der Unterschiedlichkeit zerstreuen, und zumal, damit nicht die Ehrbarkeit der Sitten dort zerstört werde, wenn sie sich wechselseitig im Hass zerfleischen, weil der höhere Stand über den unteren fällt und der untere über den höheren steigt, weil Gott das Volk auf Erden wie im Himmel unterschieden hat. [...] Und es ist geschrieben: „Gott verachtet die Mächtigen nicht, da er auch selbst mächtig ist“ (Iob 36,5). [...] Gut ist es, dass der Mensch nicht auf einen Berg zielt, den er nicht bewegen kann, sondern im Tal verharrt, langsam lernend, was er fassen kann. (Haverkamp, Tenxwind von Andernach und Hildegard von Bingen. In: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter, S. 543 ff., 1984; gekürzt. Zit. nach: Boockmann (Hg.), Das Mittelalter. Ein Lesebuch, 1988, S. 81–84) M3 98 Kompetenztraining Historische Methodenkompetenz Die unumgängliche Perspektivität und Intention von historischen Quellen feststellen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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