Wie wir Geschichte verstehen können Die Inhalte in diesem Abschnitt dienen dazu, Historische Sachkompetenz zu entwickeln. Zunächst ist es dabei notwendig zu klären, was unter „Geschichte“ und „Vergangenheit“ zu verstehen ist, was man mit „Quellen“ und „Darstellungen“ meint und wie diese verwendet werden. Anhand der folgenden Ausführungen kannst du die entsprechenden Einsichten erarbeiten und im Laufe des weiteren Unterrichts anwenden. Im Alltag und in der Umgangssprache verwenden wir die Wörter „Geschichte“ bzw. „geschichtlich“ (historisch) und „Vergangenheit“ auf ganz selbstverständliche Weise. Wir gehen davon aus, dass alle wissen, was wir meinen, wenn wir z.B. sagen: „Das ist eine schöne Geschichte“; „das gehört für immer der Vergangenheit an“; „das ist die Geschichte unserer Familie“; „der Goldpreis erreichte einen historischen Höchststand“. Aus dem Wetterbericht: „Es war noch nie so warm, seit es geschichtliche Aufzeichnungen gibt.“ Für wen aber ist eine Geschichte eine „schöne Geschichte“ bzw. eine „schöne ‚Erzählung‘“? Wer bestimmt darüber, dass etwas „der Geschichte angehören soll“? Im Geschichtsunterricht und natürlich in der Geschichtswissenschaft werden solche Fragen systematisch behandelt. Hier bezieht sich Geschichte auf vergangenes Geschehen, wie es z.B. durch Quellen oder Darstellungen überliefert (berichtet) wird. Solche Berichte stellen immer nur Ausschnitte aus dem tatsächlichen Geschehen in einem bestimmten Zeitabschnitt (= der Vergangenheit) dar. So wird z.B. auch ein Bericht über einen Verkehrsunfall oder über ein Ereignis in der Klasse niemals alles enthalten, was dabei tatsächlich passiert ist. Obwohl also „Geschichte“ mit „Vergangenheit“ zu tun hat, ist sie doch nicht dasselbe wie „Vergangenheit“. Unterschiede von „Geschichte“ und „Vergangenheit“: „Geschichte“ ist etwas „Gemachtes“, also eine (Re-)Konstruktion. Das Machen der Geschichte ist das Erzählen. Dies gilt für fiktive (erdachte) Geschichten (Romane, Märchen, Legenden) genauso wie für solche, die sich um Faktizität (Tatsachenfeststellung) bemühen (z. B. historische Fachbücher). Das Erzählen von „wirklichen Gegebenheiten“ der Vergangenheit als Geschichte geschieht immer in der Gegenwart; jede jeweilige Gegenwart deutet die Vergangenheit aus ihrem Blickwinkel. Deshalb sieht die „Römische Geschichte“ (4 Bände, Berlin 1854 – 1885), die Theodor Mommsen (1817 – 1903) schrieb, ganz anders aus als Suetons (69 – 140 n. Chr.) „Leben der Cäsaren“ und als Jochen Bleickens (1926 – 2005) „Geschichte der römischen Republik“ (München 1955). Aber auch zeitgenössische Geschichtswissenschaft hat häufig unterschiedliche Ansichten und Ergebnisse. Geschichtswissenschaft ist nämlich immer von einem Standpunkt, einer „Perspektive“, abhängig. (Vereinfacht nach Jordan: Einführung in das Geschichtsstudium, 2005, S. 38) M1 Geschichte ist vielfältig. Sie wird (re-)konstruiert: Geschichte gehört in sehr unterschiedlichen Formen zum Leben. Im Alltag der Einzelnen ergeben sich vielfach Bezüge auf Geschichte, wenngleich meist nur beiläufig. So erfährt man von früheren Erlebnissen der eigenen Familie und interessiert sich für die eigene Herkunft im Mehrgenerationenzusammenhang. Man hält inne vor Gräbern, Denkmälern und anderen Erinnerungsorten der nahen oder weiteren Umgebung. Reisen führen zu historischen Sehenswürdigkeiten und zur Begegnung mit Fremdem, das nur durch Rückgriff auf seine Entstehung verstanden werden kann. [...] Wenn man so denkt und spricht, setzt man allerdings ein breites Verständnis von Geschichte voraus: etwa im Sinn verschiedener kultureller Praktiken, durch die sich ein Mensch, eine Gruppe, ein Gemeinwesen (z. B. eine Dorfgemeinschaft) oder eine Kultur auf Vergangenes bezieht, um unterschiedliche Bedürfnisse der Gegenwart – auch im Hinblick auf die Zukunft – zu erfüllen. Anders formuliert: Geschichte ist eine Vielfalt von Praktiken (Erzählungen, Erinnerungen, Deutungen, Sammlungen etc.), durch die Vergangenes bewahrt oder neu mit Bedeutung für Gegenwart und Zukunft versehen (rekonstruiert) wird. Geschichte ist also ein Verhältnis, das zwischen Vergangenheit und Gegenwart unter Berücksichtigung der Zukunft hergestellt (konstruiert) wird. (Gekürzt und vereinfacht nach Kocka. In: Budde/Freist/Günther-Arndt (Hg.): Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, 2008, S. 12 – 31, bes. S. 14 f.) Historisches Wissen entsteht über vielfältige Anregungen: Der Historiker ist immer auch Zeitgenosse. [...] Indem Historiker Geschichte „erzählen“, folgen sie bestimmten, aus ihrer jeweiligen Gegenwart entnommenen Formen und Sprechweisen. Solches historisches Wissen ist retrospektiv, perspektivisch, selektiv und partikular. Retrospektivität bedeutet, dass seine Wertvorstellungen dem Historiker den Zugang zur Vergangenheit weisen, dass sich seine Fragestellungen aus seinen eigenen Problem- und Zeitwahrnehmungen bestimmen. Perspektivisch ist historische Erkenntnis insofern, als die Problemsicht des Historikers immer durch seine Gegenwart geprägt ist. Dass historisches Wissen immer nur selektiv (ausschnitthaft) sein kann, liegt auf der Hand. Es lässt sich nämlich Vergangenheit nie vollständig rekonstruieren, sondern nur in Ausschnitten, die wiederum der Historiker ausgewählt hat. Da aus historischem Wissen zudem nur partikulare (auf Teile bezogene und vorläufige) Erkenntnisse gewonnen werden können, kann es keine „abschließenden“ „historischen Wahrheiten“ geben, sondern nur, auf unterschiedlichen Wegen, vielfältige Annäherungen. (Metzler: Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, 2004, S. 43 f.) M2 M3 9 Kompetenztraining Historische Sachkompetenz Die Begriffe/Konzepte „Geschichte“ und „Vergangenheit“ sowie „Quelle“ und „Darstellung“ klären und hinsichtlich ihrer Verwendung differenzieren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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