Zeitbilder 5, Schulbuch

Reden als Mittel zur Manipulation Politikerinnen und Politiker sowie weitere führende Persönlichkeiten (z. B. Feldherrn) möchten die Menschen seit alters her für sich und für ihre Ideen gewinnen. Sie wollen die Massen beeinflussen und für ihre Zwecke einspannen. So versuchen sie z.B. vor Wahlen die Menschen für ihr Programm zu begeistern. Nicht selten greifen sie dabei zu Mitteln der Manipulation. Unter Manipulation („geschickte Handhabung, Handgriff, Kunstgriff; Machenschaft“) wird hier die gezielte und verdeckte Beeinflussung von Menschen verstanden. Dazu benutzen sie besonders öffentliche Reden bzw. Aufrufe. Gegenwärtig nutzen sie v. a. das Fernsehen. Denn mit ausgewählten Bildern lassen sich die Aussagen besonders gut verstärken. Aber auch Radio, Zeitungen oder Internet ermöglichen es, Aufrufe öffentlichkeitswirksam zu gestalten. Schon in der klassischen Antike gab es berühmte Rhetoriker (von Griechischen: rhetorike – Redekunst) wie beispielsweise Demosthenes (gest. 322 v. Chr.) oder Cicero (gest. 43 v. Chr.). Demosthenes hielt vier herausragende Reden (Philippika) zur Verteidigung der griechischen Stadtstaaten gegen die sich herausbildende Großmacht Makedonien unter König Philipp VI. Cicero hielt vier Reden gegen Catilina, der eine Verschwörung plante. Diese Kunst beherrschte man auch im Mittelalter. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bildet der Aufruf von Papst Urban II. 1095 zum Ersten Kreuzzug gegen die Sarazenen. Diese hatten schon im Jahr 683 Jerusalem erobert. Zwar gab es im Laufe des 11. Jh. vereinzelt Hinweise darauf, dass Christen der Ostkirche im muslimischen Palästina unterdrückt würden. So berichteten lateinische Christen, die um die Mitte des 11. Jh. Pilgerreisen ins Heilige Land unternahmen, von Problemen, die heiligen Stätten zu besuchen. Doch Pilger, die um 1090 im Heiligen Land waren, beschrieben Jerusalem als ein blühendes Zentrum der religiösen Verehrung für Muslime und für Christen. Sie erwähnten, dass es den Christen in Jerusalem gestattet war, ihre Kirchen in gutem Zustand zu erhalten. Es finden sich in den – allerdings sehr spärlichen – Überlieferungen keine Hinweise darauf, dass griechische oder lateinische Christen behindert oder gar misshandelt worden wären. Nichts deutete also um 1090 darauf hin, dass die muslimischen arabischen Herrscher die christliche Minderheit verfolgten. Der Papst jedoch bereitete seinen Aufruf sorgfältig vor. Er hatte für November 1095 eine Bischofsversammlung nach Clermont (Frankreich) einberufen. Zwölf Erzbischöfe, 80 Bischöfe und 90 Äbte folgten der Einladung. Dies war die größte Versammlung hoher kirchlicher Würdenträger während seiner Amtszeit. Nach mehrtägigen Beratungen bekundete der Papst seine Absicht, eine besondere Ansprache zu halten. Am Vormittag des 27. November 1095 hielt er vor den geistlichen Würdenträgern und hunderten Gläubigen seine Rede: 16. Die Beeinflussung von Massen Q Ihr Volk der Franken [...] ihr seid, wie eure vielen Taten zeigen, Gottes geliebtes und auserwähltes Volk. [...] An euch richtet sich unsere Rede [...]; sie betrifft euch und alle Gläubigen. Aus dem Land von Jerusalem und der Stadt Konstantinopel kam schlimme Nachricht [...]: Das fremde Volk der Sarazenen, ein ganz gottloses Volk, hat die Wiege unseres Heils, das Vaterland des Herrn, in seiner Gewalt. Diese gefühllose Brut drückt die heiligen Orte, welch die Füße des Herrn betreten haben, schon seit langer Zeit mit seiner Tyrannei und hält die Gläubigen teils in Knechtschaft und Unterwerfung, teils wurden sie verschleppt, teils elend umgebracht. Dieses Volk hat die Kirchen Gottes zerstört, die Altäre mit Schmutz befleckt. Die Hunde sind ins Heiligtum gekommen und das Allerheiligste wurde entweiht. Niemand anders als ihr habt die Aufgabe die Schmach zu rächen, dieses Land zu befreien. Bewaffnet euch mit dem Eifer Gottes, liebe Brüder, gürtet eure Schwerter an eure Seiten. Wenn euch die Liebe zu euren Kindern und Frauen davon abhält, bedenkt, was Gott im Evangelium sagt: Jeder, der Frau und Kinder um Gottes Willen verlässt, bekommt hundertfachen Lohn und ewiges Leben. [...] Euer Land hier ist eng und dicht bevölkert. Es liefert keinen Wohlstand und den Bauern kaum genug Nahrung: Deshalb bekämpft und tötet ihr euch gegenseitig. Wendet die Waffen, mit denen ihr auf sträfliche Weise Bruderblut vergießt, gegen die Feinde des christlichen Glaubens: Tretet den Weg zum heiligen Grab [in Jerusalem, Anm. d. A.] an. Nehmt dem gottlosen Volk das Land weg und macht es euch untertan. Jerusalem ist der Mittelpunkt der Erde, das fruchtbarste aller Länder. Jerusalem sehnt sich danach, dass ihr es befreit. [...] Macht euch also auf den Weg. Wir aber erlassen, durch die Barmherzigkeit Gottes allen gläubigen Christen, die gegen die Ungläubigen die Waffen nehmen und sich der Last dieses Pilgerzuges unterziehen, alle Strafen für ihre Sünden. Ewiger Lohn im Himmel ist euch gewiss. (Der Augenzeuge Mönch Robert von Reims schrieb die (hier gekürzte) Rede 1107 nieder. Zit. nach: Geschichte und Geschehen, Bd. 2, S. 138, bearb. d. A.) Die Predigt des Papstes war für das Publikum überwältigend: „Die einen hatten Tränen in den Augen. Andere zitterten“. Das berichten die Augenzeugen. Einer von ihnen war der Mönch Robert von Reims. Er schrieb die hier gekürzt wiedergegebene Rede erst im Jahr 1107 nieder, also 12 Jahre nachdem der Papst sie gehalten hatte. Diskutiert in der Klasse, wie der lange Zeitabstand oder die Ereignisse des Ersten Kreuzzuges (vgl. S. 110) die Wiedergabe der Rede beeinflusst haben könnten. Erörtert mögliche Gründe dafür, die Rede des Papstes erst zwölf Jahre später aufzuschreiben. 114 Politische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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