Zeitbilder 5, Schulbuch

15.1 Die Kreuzzüge Mit „Orient“ bezeichnete man bereits seit der Antike – von Europa aus gesehen – die Länder gegen Sonnenaufgang, also im Osten Europas. Hier ist der Raum an den östlichen Küsten des Mittelmeeres gemeint, der heute als „Naher Osten“ bezeichnet wird. „Okzident“ bezieht sich auf die untergehende Sonne, den Abend (Abendland, Westen). Im Mittelalter gab es für die Menschen neben der Entsagung der Welt im Kloster noch ein Mittel, um ihre Sünden zu tilgen und Gottes Wohlgefallen zu erlangen: die Mühsal einer Wallfahrt auf sich zu nehmen. Wallfahrt bedeutete Buße, Prüfung, Läuterung. Santiago de Compostela (angebliche Begräbnisstätte des Apostels Jakobus) in Spanien, Rom und Jerusalem zogen die meisten Pilgerinnen und Pilger an. Ab dem 11. Jh. verstand das aufstrebende Rittertum die Wallfahrt zunehmend mehr als Kriegsdienst für Christus. In der zweiten Hälfte des 11. Jh. fielen die Seldschuken, die gläubige Moslems waren, in Kleinasien ein und eroberten gut die Hälfte des Oströmischen (Byzantinischen) Reiches. Jetzt erst nahm man im Westen den Hilferuf des oströmischen Kaisers ernst und beschloss, die muslimischen Eroberer aus den ehemals christlichen Gebieten zu vertreiben. Das eigentliche Ziel der Christen war, Jerusalem unter christliche Herrschaft zu bringen. „Gott will es“ Die Führung dieser Bewegung übernahm Papst Urban II. Zum Abschluss der Synode von Clermont (1095) hielt er vor einer großen Menschenmenge eine Rede, in der er zum Kreuzzug aufrief (vgl. dazu das Kapitel „Politische Bildung: Die Beeinflussung von Massen“, S. 114 f.). Als der Papst geendet hatte, erhob sich aus der Menge eine begeisterte Zustimmung: „Gott will es!“ Siege und Niederlagen In sieben größeren Kreuzzügen (1096–1291) wälzten sich ungeheure Massen gegen das Heilige Land. Dieses erreichten jedoch nur die gut organisierten Ritterheere. Sie eroberten im Ersten Kreuzzug (1096–1099) Jerusalem. In einem wahren Blutrausch richteten sie unter der Bevölkerung ein unvorstellbares Massaker an. Voll Schmerz und Empörung berichtet der arabische Dichter Mosaffer Allah Werdis: Q Wir haben in Massen unser Blut vermischt mit unseren Tränen. Keiner von uns ist noch im Stande, den Feind zurückzuschlagen, der uns bedroht. Oh dass so viel Blut geflossen ist, dass man so vielen Frauen nichts hat gelassen, ihre Scham zu schützen als die Flächen ihrer Hände. Zwischen dem Stoß der Lanzen und der Schwerter ist der Schreck so furchtbar, dass das Antlitz der Kinder weiß wird vor Angst. (Samman und Mazal, Die Arabische Welt und Europa, 1988, S. 33) Die danach errichteten Kreuzfahrerstaaten, wie das christliche Königreich Jerusalem, behaupteten sich gegen die Araber etwa bis zum Ende des 12. Jh. Entlang der syrischen Küste hielten sie sich noch ca. 100 Jahre länger. Schließlich eroberten die arabischen Truppen die Stadt Akkon (1291). Sie gingen gegen die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt ähnlich grausam vor wie seinerzeit die christlichen Kämpfer bei der Erstürmung von Jerusalem. Damit fand die Kreuzzugbewegung ihr Ende. Politische und kulturelle Auswirkungen Lange Zeit veranschlagte man die Bedeutung der Kreuzzüge sehr hoch. Auf Grund neuer Forschungsarbeiten neigt man aber gegenwärtig eher zu einer zurückhaltenden Bewertung hinsichtlich der politischen Auswirkungen. Während sie für die Muslime kaum mehr als eine Reihe von Grenzzwischenfällen bedeuteten, wurde das Oströmische Reich nachhaltig geschwächt und unterlag schließlich den Osmanen. Die Kreuzzüge dienten in Europa zunächst der Ausbildung des Rittertums. Sie gaben Stoff ab für die höfische Dichtung, die zu einem guten Teil „Kreuzzugsdichtung“ war. Darin wurde der ideale Ritter besungen, dessen Hauptfeinde die Sarazenen waren. Die 200 Jahre dauernden Konfrontationen brachten es aber unvermeidlich mit sich, dass Araber und Europäer, Muslime und Christen vermehrt miteinander in Kontakt kamen und Handelsbeziehungen aufbauten – allen voran die Seestadt Venedig. Zwar kamen die Kreuzfahrer mit den Zentren der arabischen Bildung in Bagdad und Damaskus nie in Berührung. Allerdings erfuhren die geographischen Vorstellungen der Europäer eine gewaltige Ausdehnung und größere Genauigkeit. Das kam dem Seehandel zugute. Mit seinem Aufschwung stieg auch der Geldbedarf. In diesem Zusammenhang erwarben die Europäer Kenntnisse in Bank-, Geld- und Transportgeschäften. Moslems und Christen im Kampf um Jerusalem. (Buchmalerei aus einer Handschrift des 13. Jh., Bibliothèque Nationale des France) 15. Orient und Okzident – Wechselwirkungen 110 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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