Sexl Physik 5 RG, Schulbuch

5.4 Die Jagd nach dem absoluten Nullpunkt Wie weit lässt sich ein Körper abkühlen? Die Vorhersage einer tiefstmöglichen Temperatur von −273,15 °C stellte eine Herausforderung für die Experimentalphysik dar. Zahlreiche Forschergruppen versuchten, dem absoluten Nullpunkt möglichst nahe zu kommen. Im 21. Jahrhundert ist man dem Ziel auf wenige Nanokelvin nahe gekommen. Es gelang, alle Gase sowohl zu verflüssigen als auch in den festen Zustand überzuführen. Dafür gibt es zwei Methoden: Bei der adiabatischen Kühlung von Gasen lässt man Gas in einem wärmeisolierten Zylinder expandieren, wobei das Gas wie in einer klassischen Dampfmaschine einen Kolben verschiebt oder eine Gasturbine antreibt. Dabei verrichtet es Arbeit gegen einen äußeren Druck, und seine innere Energie nimmt ab – das Gas kühlt ab. Wiederholt man die Expansion mehrmals, dann sinkt die Temperatur schließlich so weit ab, dass das Gas flüssig wird. Bei tieferen Temperaturen ist eine andere Methode wirkungsvoller. Man lässt in einem Gefäß komprimiertes Gas durch eine kleine Öffnung in ein Gebiet niederen Drucks strömen. Die Moleküle verrichten bei dieser Expansion Arbeit gegen die anziehenden zwischenmolekularen Kräfte. Dadurch sinkt die Temperatur des Gases (Joule-Thomson-Effekt, 145.2). Durch Wiederholung dieser Prozesse erreicht man immer tiefere Temperaturen. Die Geschichte der Tieftemperaturtechnik begann 1860 mit der Erreichung des Erstarrungspunktes von Quecksilber (234 K, −39 °C). Siebzehn Jahre später, im Jahre 1877, gelang erstmals die Verflüssigung von Sauerstoff bei 90 K (−183 °C). Nach weiteren 21 Jahren konnte James Dewar in England Wasserstoff bei 21 K (−252 °C) verflüssigen. Weitere zehn Jahre der Verfeinerung experimenteller Techniken waren erforderlich, bis dem niederländischen Physiker Kamerlingh Onnes im Jahre 1908 die Verflüssigung von Helium bei 4,2 K gelang. Flüssiger Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Helium werden heute großtechnisch hergestellt. Das größte mit flüssigem Helium gekühlte Objekt sind die 1 200 supraleitenden Magnetspulen von je 15m Länge, die am Europäischen Forschungszentrum Cern bei 1,9 K betrieben werden, um Protonen auf einer Kreisbahn zu führen und gegenseitig zur Kollision zu bringen – das Interesse gilt den physikalischen Bedingungen, wie sie am Beginn des Universums geherrscht haben (Mehr dazu in Physik 8). Das Ziel, der absolute Nullpunkt (0 K), bedeutet in der klassischen Physik absolute Ruhe der Teilchen, in der Quantenphysik bleibt immer ein Rest an Bewegung. Im Labor werden Temperaturen von 10−9 K, erreicht, wodurch im Labor die tiefsten Temperaturen des Universums erzeugt werden. Demoexperiment: Versuche mit flüssigem Stickstoff 145.1 Taucht man einen Gummischlauch kurze Zeit in flüssigen Stickstoff, so wird der normalerweise biegsame Schlauch hart und spröde (145.3). Auch andere organische Materialien, z. B. Blumen oder Fleisch, verhalten sich so. Flüssiger Stickstoff in ein Gefäß mit Wasser gegossen erzeugt Theaternebel, auf den Tisch gegossen gleiten Tropfen reibungsfrei auf einer Dampfschicht. E2 Beschreibe deine Beobachtung und erkläre die beobachteten Phänomene. Heizen mit Wärmepumpen Eine Wärmepumpe nutzt Grundwasser von 10°C und liefert Warmwasser von 50°C. Eine ideale Wärmepumpe würde die eingesetzte Energie W um den Faktor (273 + 50)/40 = 8,1, d. h. um das 8-fache, vergrößern. In der Realität ist die Hälfte erreichbar. Die Temperatur des Grundwassers ist jahreszeitlich konstant, nicht jedoch die Lufttemperatur. Bei einer Außentemperatur von −7 °C und einer Wassertemperatur von 35 °C ist die ideale Leistungszahl εth = (273 + 35)/42 = 7,3. Im Datenblatt zu einer Luft-Wärmepumpe wird die Leistungszahl mit ε = 2,9 angegeben. Mit 1 kWh elektrischer Energie werden 2,9 kWh Wärme gewonnen. Und die Brennwerttherme? Bei ihr kann aus 1 kWh chemischer Energie nicht mehr als 1 kWh Wärme gewonnen werden! 145.1 Die Luftverflüssigungsanlage von Carl von Linde (1842–1934). Linde stellte erstmals im Jahr 1895 durch Anwendung des JouleThomson-Effekts größere Mengen flüssige Luft her. Stickstoff wird unter normalem Atmosphärendruck bei 77 K (−196 °C) flüssig, Sauerstoff bei 90 K (−183 °C). 145.2 Der Joule-Thomson Effekt: Die Drossel bewirkt eine Druckerniedrigung. Bei der Expansion verrichten die Moleküle von nicht-idealen Gasen gegen die anziehenden zwischenmolekularen Kräfte Arbeit: Die Temperatur nimmt ab. Der Effekt ist die Grundlage der Verflüssigung bei tiefen Temperaturen, ist aber auch im Kühlschrank durch die Drossel realisiert. Drossel p V 1 1 · p V 2 2 · v T   145.3 Ein Gummischlauch wird 30 Sekunden in flüssigen Stickstoff getaucht. Der Schlauch lässt sich anschließend leicht mit einem Hammer zerschlagen. 145 Thermodynamik 5 Wärme- und Kältetechnik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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