44 Kolonialismus aus der Sicht der Unterdrückten M1 Aus einem Brief Witboois an Göring Q Hornkranz, 29. Mai 1890 Mein sehr geliebter wohlgeborener Herr Dr. Göring! Ihren Brief habe ich erhalten und verstanden, was Euer Wohlgeboren sagen. Aber, lieber Herr, ich bin ganz erstaunt über diesen Brief. Euer Wohlgeboren sprechen von sehr großen, schwierigen und gewichtigen Dingen. Wie wichtig die Angelegenheiten auch sein mögen, so werde ich doch mein Bestes tun, um Euer Wohlgeboren eine zutreffende und genügende Antwort zu geben. Sie haben weder Platz noch Raum in meinem Herzen gelassen, dass ich Ihnen die Punkte nach eigenem Gutdünken und freier Wahl beantworten könnte, denn nicht als unparteiischen Friedensstifter haben Sie mich angesprochen oder gebeten, sondern Sie befehlen mir kurzerhand, was ich zu tun habe. Euer Wohlgeboren können aus diesem Grunde dieses Mal keine ausführliche Antwort von mir erwarten. Ich glaube, dass Euer Wohlgeboren bereits zur Genüge aus Erzählungen zuverlässiger roter und auch weißer Menschen, die bereits lange unter dem Hererovolk gelebt haben, erfahren und gehört haben, dass die Hereros unzweifelhaft Mörder sind, die keinen einzigen Menschen, auf den sie zufällig im Felde stoßen, am Leben lassen. Sie haben ja selbst ein paar Jahre unter den Hereros gelebt und dies selbst beobachtet. Euer Wohlgeboren sagen, dass ich wieder nach Gibeon zurückzugehen habe. Aber lieber Herr! Ich muss aber die Wahrheit aussprechen, so wie sich mir die Dinge darstellen. Als ich von Gibeon wegzog, hat mir niemand geraten, dies zu tun, und niemand hat mir zu irgendeiner Zeit geraten, wieder nach Gibeon zurückzugehen. Kein Mensch hat mir zu raten, ich solle wieder nach Gibeon zurückgehen. Ich sage das, lieber Herr, nicht aus Hochmut oder Überheblichkeit oder gestützt auf meine eigene menschliche Stärke. Euer Wohlgeboren mögen mich recht gut verstehen. In der Hoffnung, dass Euer Wohlgeboren sich die Sache in Ruhe überlegen und dass wir einander gut verstehen und miteinander auskommen, schließe ich meinen Brief. Mit den besten Grüßen an Sie alle. Ich verbleibe Ihr Freund und Kapitain (= Mann, der einen Stammesteil leitete) Hendrik Witbooi (nach: H. Witbooi, Afrika den Afrikanern! 1982) M2 Hendrik Witbooi mit seiner Familie (Foto um 1900) zu den Schulbuchseiten 112 und 113 Hendrik Witbooi (um 1830–1905) führte den NamaStamm Witbooi. Er kämpfte mit den Herero und später mit der deutschen Kolonialmacht. Er war Christ, sprach mehrere europäische Sprachen und beschäftigte sich mit europäischer Kultur und Geschichte. Er starb im Aufstand der Herero und der Nama. Dr. Heinrich Göring war in dieser Zeit deutscher kaiserlicher Kommissar in Südwestafrika, er leitete also die Verwaltung der Kolonie. Kamaherero, das Oberhaupt der Herero, führte deren Kampf gegen die Vorherrschaft der Nama an. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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