Killinger Literaturkunde, Schulbuch

94 REDEKUNST BEI SHAKESPEARE ALS VORBILD William Shakespeare (1564 – 1616) galt wegen seiner sprachlichen Virtuosität, seiner Regellosigkeit und seiner Charakterzeichnung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Vorbild für das deutsche Drama, besonders für Lessing und später für die Vertreter des Sturm und Drang. Er wechselt in den meisten seiner Dramen zwischen Prosa und Vers. Sein Versmaß ist der jambische Fünfheber, der nur an besonders wichtigen Stellen und zur Verdeutlichung eines Abschlusses gereimt ist. Den reimlosen jambischen Fünfheber nennt man Blankvers. Weder Shakespeare noch seine Übersetzer handhaben den Jambus starr. Shakespeares jambischer Fünfheber wurde vor allem wegen seiner Geschmeidigkeit und seiner Fähigkeit, die Sprache zu verdichten, zum Vorbild für Lessing und die deutsche Klassik. Der folgende Ausschnitt aus der Tragödie Julius Cäsar verdeutlicht Shakespeares kunstlerischen Umgang mit Sprache und Rhetorik. William Shakespeare: Julius Cäsar (1599) Im Jahre 44 vor Christus wird Gaius Julius Cäsar, Diktator über das römische Weltreich und auf dem Höhepunkt seiner Macht, während einer Senatsversammlung von Verschwörern erstochen – eines der berühmtesten Attentate der Weltgeschichte. Attentäter werden meist gegensätzlich gedeutet: entweder als Verbrecher oder als Freiheitshelden. In der 2. Szene des 3. Aktes kommen Brutus und Cassius nach dem Mord an Cäsar auf das Forum. Die versammelten Bürger fordern ungestüm Rechenschaft über die Tat. Der Gang der Geschichte scheint nach den sich überstürzenden Ereignissen der letzten Stunden einen Augenblick lang stillzustehen. Von der Reaktion des Volkes wird es abhängen, ob die Verschwörer oder die Freunde Cäsars in Zukunft Rom beherrschen. In diesem Abschnitt aus August Wilhelm Schlegels (1767 – 1845) berühmter Übersetzung entschließt sich Brutus zu einer Ansprache an das Volk: Dramentext Erläuterung der Redemittel BRUTUS: Römer! Mitbürger! Freunde! Mit der dreifachen Anrede, die immer persönlicher wird, will Brutus jeden ansprechen. Außerdem gewinnt er Zeit, während der sich die aufgeregte Menge beruhigen kann. Hört mich meine Sache führen und seid still, damit ihr hören möget! Noch keine Aussage zur Sache, lediglich Appell an das Publikum. Der Redner erzeugt Neugier auf das Kommende. Glaubt mir um meiner Ehre willen, und hegt Achtung vor meiner Ehre, damit ihr glauben mögt! Pathetisch1 beschwörender Redestil, der bis knapp vor das Ende durchgehalten wird. Brutus beruft sich auf seine Ehrenhaftigkeit als etwas Unbezweifelbares, Selbstverständliches. Richtet mich nach eurer Weisheit, und weckt eure Sinne, um desto besser urteilen zu können! Er schmeichelt dem Volk, indem er es zum Richter macht und zugleich an seine Weisheit appelliert. – Bis hierher nur Imperative in den Hauptsätzen! Ist jemand in dieser Versammlung, irgendein herzlicher Freund Cäsars, dem sage ich: des Brutus Liebe zum Cäsar war nicht geringer als seine. Übergang zum eigentlichen Thema. Überraschungsmoment: Brutus spricht zuerst von seiner Liebe zu Cäsar. Dabei redet er von sich in der 3. Person und reiht sich in die Gemeinschaft der Freunde Cäsars ein. Analyse rhetorischer Mittel 1 pathetisch: übertrieben feierlich Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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