AUFKLÄRUNG | 1700 – 1770 89 Der Kern des Dramas ist die so genannte Ringparabel: Sultan Saladin, der sich in Geldnöten befindet, möchte Nathan in Verlegenheit bringen, um leichter Geld von ihm ausborgen zu können. Daher stellt er dem weisen Nathan die Frage, welche Religion denn die wahre sei. SALADIN: [...] Da du nun So weise bist: so sage mir doch einmal – Was für ein Glaube, was für ein Gesetz Hat dir am meisten eingeleuchtet? NATHAN: Sultan, Ich bin ein Jud’. SALADIN: Und ich ein Muselmann. Der Christ ist zwischen uns. – Von diesen drei Religionen kann doch eine nur Die wahre sein. – Ein Mann, wie du, bleibt da Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt Ihn hingeworfen; oder wenn er bleibt, Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern. Wohlan! So teile deine Einsicht mir Denn mit. Lass mich die Gründe hören, denen Ich selber nachzugrübeln nicht die Zeit Gehabt. Lass mich die Wahl, die diese Gründe Bestimmt – versteht sich, im Vertrauen – wissen, Damit ich sie zu meiner mache. [...] NATHAN: Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Wert Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal1, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, Dass ihn der Mann in Osten darum nie Vom Finger ließ und die Verfügung traf, Auf ewig ihn bei seinem Hause zu Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring Von seinen Söhnen dem geliebtesten Und setzte fest, dass dieser wiederum Den Ring von seinen Söhnen dem vermache, Der ihm der liebste sei: und stets der liebste, Ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein Des Rings das Haupt, der Fürst des Hauses werde. [...] So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, Auf einen Vater endlich von drei Söhnen, Die alle drei ihm gleich gehorsam waren, Die alle drei er folglich gleich zu lieben Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit 5 10 15 20 1 Opal: Edelstein 25 30 35 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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