Killinger Literaturkunde, Schulbuch

BAROCK | 17. JAHRHUNDERT 71 Die früh verstorbene Sibylla Schwarz (1621 – 1638) stammte aus einer Greifswalder Patrizierfamilie und begann bereits im Alter von 10 Jahren Gedichte zu schreiben, in denen sie sich mit den Problemen der Zeit (Krieg, Elend, Tod), aber auch mit Aspekten der Liebe auseinandersetzte. Sie war hoch gebildet und war auch mit den poetischen Traditionen ihrer Zeit (Martin Opitz) vertraut. Sie gilt heute als Vorläuferin einer eigenständigen Frauenliteratur. Sibylla Schwarz: Mein Alles ist dahin (1637/38) Mein Alles ist dahin / mein Trost in Lust und Leiden / mein ander Ich ist fort / mein Leben / meine Zier / mein liebstes auf der Welt ist weg / ist schon von hier. (die Lieb’ ist bitter zwar / viel bittrer ist das Scheiden) Ich kann nicht von dir sein / ich kann dich ganz nicht meiden O liebste Dorile1! Ich bin nicht mehr bei mir / Ich bin nicht der ich bin / nun ich nicht bin bei dir. Ihr Stunden lauft doch fort / wollt ihr mich auch noch neiden? Ei Phoebus2 halte doch die schnelle Hengste3 nicht! Fort / fort / ihr Tage fort / komm bald du Monden Licht! Ein Tag ist mir ein Jahr / in dem ich nicht kann sehen mein ander Sonnenlicht! fort / fort / du faule Zeit / spann doch die Segel auf / und bring mein Lieb noch heut / und wann sie hier dann ist / so magst du langsam gehen. 14. Interpretieren Sie den Text von Sibylla Schwarz: • Fassen Sie den Inhalt in eigenen Worten zusammen. • Charakterisieren Sie das lyrische Ich. • Analysieren Sie die Form des Gedichts. (Aufbau, Reimschema, Versmaß, Metrik/Kadenz). • Untersuchen Sie die Sprache (Stil, Wortschatz, Satzbau, Stilmittel, Titel). • Deuten Sie die Aussage dieses Textes. Angelus Silesius (= Schlesischer Engel, eigtl. Johann Scheffler, 1624 – 1677) stammte aus einer protestantischen, schlesischen Adelsfamilie und hat seinen Ruhm durch Epigramme begründet. In einem Epigramm wird ein Gedanke zugespitzt ausgedrückt. Schon in der Antike war der Zweizeiler (das Distichon) als Form des Epigramms üblich. Häufig wird diese Form dazu benützt, antithetisch vorzugehen: Frage – Antwort, Spannung – Lösung, Erwartung – Aufschluss. Die Epigramme des Angelus Silesius sind von der mittelalterlichen Mystik beeinflusst. Im außerordentlichen Zustand der mystischen Versenkung gelten die Gesetze der Logik nicht mehr. Die Mystikerin und der Mystiker drückt das jeweilige Gotteserlebnis in paradoxen (logisch einander widersprechenden) Sätzen aus. 8cz8ri 2 4 6 1 Dorile: Name der Geliebten 2 Phoebus: Beiname des griechischen Gottes Apollon, des Gottes des Lichts, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung sowie der Weissagung und der Künste (der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs), gleichgesetzt mit Helios, dem Sonnengott 3 Während des Tages lenkt Phoebus (Helios) den Sonnenwagen, der von vier Hengsten gezogen wird, über den Himmel. 8 10 12 14 Distichon Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==