FRÜHMITTELALTER | 8. – 10. JAHRHUNDERT 7 Das eine der beiden Epen, der Heliand (Heiland), entstand um 840 und besteht aus 6.000 Langversen mit dem altgermanischen Stabreim. Der uns unbekannte Dichter muss ein vornehmer Sachse gewesen sein, der sowohl die weltliche altsächsische und angelsächsische Dichtung kannte, als auch über eine gründliche geistliche Bildung verfügte. Auftraggeber war König Ludwig (der Sohn Karls des Großen, 778 – 840). Zweck des Gedichts war es, die Bibel den Laien, vor allem den Adeligen, in ihrer Sprache (dem Altsächsischen) vorlesen zu können. Der Dichter hat die vier Evangelien in eine einzige Erzählung zusammengefasst. Man nennt dies Evangelienharmonie. Die Leistung des Autors besteht vor allem in der sprachlichen Übersetzung des Inhalts. Der Stil und die Erlebnisart der biblischen Berichte sind der altsächsischen Welt, die erst kurz zuvor von Karl dem Großen (747/748 – 814) auf blutige Weise christianisiert worden war, angepasst: Christus erscheint als König aus Davids Geschlecht, die Apostel sind seine Gefolgsleute (wie in der germanischen Gesellschaftsordnung). Petrus wird als „schneller Schwertdegen“ dargestellt, Pilatus als Herzog. Neben Gottes Willen spielt die germanische Vorstellung vom Schicksal eine große Rolle. Trotz dieser Zugeständnisse an die Denkweise der Empfänger handelt es sich um ein Werk, das den christlichen Geist, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes und der Erlösung des Menschen, vermitteln will. Das zweite große Epos, das nur wenige Jahrzehnte jünger ist, stammt von dem Mönch Otfried von Weißenburg (um 790 – 875), der in einem Kloster im südlichen Elsass lebte. Mit seiner Evangelienharmonie wollte auch er das Buch der Bücher dem Laien vermitteln, der kein Latein verstand. Doch hier wird viel stärker als im Heliand die theologische Auslegung des Geschehens betont. Außerdem unterscheidet sich Otfrieds Dichtung vom Heliand durch die Übernahme spätantik-christlicher Kunstmittel: Otfried hält sich an den lateinischen Satzbau, an die antike Rhetorik, vor allem aber verwendet er als Erster den Endreim der lateinischen Dichtung. Man spürt, welche Schwierigkeiten Otfried zu überwinden hatte, theologische Erkenntnisse auf Fränkisch auszudrücken und auch noch in Verse zu bringen. Beide Werke, sowohl der Heliand als auch Otfrieds Epos, sind insofern grundlegend für die deutsche Literatur und die weitere Entwicklung des Geisteslebens, als sie den deutschen Stämmen das christliche Heilsgeschehen und die antike Sprachkultur vermitteln. Evangelienharmonien Reliefbild Otfrieds von Weißenburg in Wissembourg Endreim Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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