62 Der bedeutendste Barockroman stammt von dem Spanier Miguel de Cervantes (1547 – 1616), der die beliebten Ritterromane seiner Zeit durch seine Parodie der Lächerlichkeit preisgeben möchte. Seine phantastische Romanfigur, Don Quijote, der eine ganze Bibliothek solcher Romane verschlungen hat, lebt in seiner Vorstellung in der alten Ritterwelt. Er legt eine rostzerfressene alte Rüstung an, wählt ein Bauernmädchen zur verehrten Dame seines Herzens (Dulcinea) und zieht auf seinem dürren Gaul Rosinante aus, um als Beschützer der Armen, Witwen und Waisen alles Unrecht aus der Welt zu schaffen und das goldene Heldenzeitalter zu erneuern. Von einem Dorfwirt lässt er sich unterwegs zum Ritter schlagen. Er wählt Sancho Pansa1, einen pfiffigen Bauern, zu seinem Schildknappen, der ihm auf einem Esel getreulich folgt, weil er sich reiche Beute verspricht. Beide, der große, hagere Ritter mit dem traurigen Gesicht und der kleine rundliche Bauer, ziehen durch die Mancha2 ihrem ersten Abenteuer entgegen: Don Quijote erscheinen die sausenden Windmühlen als Riesen, die er vernichten will. Keine noch so blutige Erfahrung der Wirklichkeit bringt ihn von seinen Ideen ab. Für ihn sind die Ideen das Wirkliche, der Augenschein Trug und Blendwerk. So werden die beiden Zentralfiguren zu Verkörperungen zweier entgegengesetzter Typen: der Idealist Don Quijote, der die Welt nach seinen Vorstellungen verändern will, aber die ärgsten Schläge einstecken muss, und Sancho Pansa, der die Welt nüchtern sieht und auf seinen Vorteil bedacht ist. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus (1668) Der bedeutendste deutsche volkstümliche Roman der Barockzeit ist Der abenteuerliche Simplicissimus von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen2 (1622 – 1676). Simplicius Simplicissimus, der Sohn eines kleinen Bauern im Spessart, wächst abseits der großen Welt auf. Eines Tages trägt ihm sein Vater auf, die Schafe zu hüten und dabei fleißig auf seiner Sackpfeife (dem Dudelsack) zu spielen, damit er den Wolf vertreibe. Der Bub hat jedoch keine rechte Vorstellung von Wölfen. Er bläst auf seinem Instrument und singt ein Lied über den Bauernstand. Simplicius hütet die Schafe Biß hieher, und nicht weiter kam ich mit meinem lieblich-thönenden Gesang, dann ich ward gleichsam in einem Augenblick von einem Troup Courassirer3 samt meiner Herde Schafen umgeben, welche im großen Wald verirret gewesen und durch meine Music und Hirten-Geschrey wieder waren zurecht gebracht worden. Hoho, gedachte ich, diß seynd die rechten Kautzen! diß seynd die vierbeinigte Schelmen und Diebe, darvon dir dein Knän4 sagte; dann ich sahe anfänglich Roß und Mann (wie hiebevor die Americaner die Spanische Cavallerie5) vor einer einzige Creatur an, und vermeynete nicht anders, als es müsten Wölffe seyn, wolte derowegen diesen schröcklichen Centauris6 den Hundssprung weisen7 und sie wieder abschaffen. Ich hatte aber zu solchem Der Ritter von der traurigen Gestalt 1 Sancho Pansa: sprich: ’santscho ’pansa 2 Mancha: sprich: ’mantscha, spanische Landschaft südöstlich von Madrid 2 Grimmelshausen hat wie bei den meisten seiner Werke ein Pseudonym (einen Decknamen) verwendet, hier: German Schleifheim von Sulsfort. Es ist dies eine andere Anordnung der Buchstaben seines Namens „Christoffl von Grimmelshausen“ (Anagramm). 3 Courassirer: Küraß = Brustharnisch; Kürassier = schwerer Reiter 4 Knän: im Spessart Bezeichnung für Vater 5 Damit ist die Reaktion der Ureinwohner Amerikas auf die spanische Cavallerie (Reiterei) gemeint. 6 Centauris: Kentauren sind mythologische Wesen mit Menschenkopf und Pferdeleib. 7 den Hundssprung weisen: fortjagen 5 Pablo Picasso (1881 – 1973), Don Quichotte, 1955. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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