Killinger Literaturkunde, Schulbuch

6 Mitten in der Schilderung des Kampfes bricht nach 67 Versen die Aufzeichnung des Gedichts ab. Es ist jedoch gewiss, dass der Vater den Sohn tödlich verletzt. Vielleicht hat das Gedicht mit einer Klage, vielleicht sogar mit der Selbsttötung des Vaters geendet. Man vermutet, dass es sich beim Hildebrandslied um eines der jüngsten Heldenlieder handelt, weil es formal auf einer sehr hohen Stufe steht, die eine lange Entwicklung voraussetzt. Die Situation wird knapp berichtet, dazwischen stehen direkte Reden, die den dramatischen Verlauf wiedergeben. Die Langzeilen weisen den germanischen Stabreim auf, das ist der Gleichklang von Konsonanten am Anfang sinntragender, betonter Wörter: Ik gihorta ðat seggen, Ich hörte (glaubwürdig) berichten, ðat sih urhettun ænon muotin, dass zwei Krieger, Hildebrand und Hadubrand, (allein) Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem. zwischen ihren beiden Heeren, aufeinanderstießen. sunufatarungo iro saro rihtun. Zwei Leute von gleichem Blut, Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht, garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro swert ana, sie strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre Schwerter, helidos ubar hringa, do si to dero hiltiu ritun. über die Eisenringe, die Männer, als sie zu diesem Kampf ritten. Das Hildebrandslied wurde – wie alle Heldenlieder – zunächst mündlich weitergegeben, ehe es in einer althochdeutsch-altsächsischen Mischsprache niedergeschrieben wurde. Das Motiv des Zweikampfes zwischen dem nach langer Abwesenheit heimkehrenden Vater und dem misstrauischen Sohn findet sich in der Weltliteratur mehrmals, doch das Besondere des Hildebrandsliedes liegt darin, dass der Vater weiß, wen er tötet. 1. Diskutieren Sie die Motive für derartige Auseinandersetzungen: • Finden Sie im Klassenverband eine Definition des Begriffes Ehre. • Vergleichen Sie die Rolle der Ehre in Konflikten von damals und heute. • Erläutern Sie, welchen Platz der Begriff Ehre in der Alltagssprache (Ehrenfrau/Ehrenmann, Ehrenamt, Ehrenbürgerin/Ehrenbürger, Ehrensache, Familienehre) einnimmt. • Beziehen Sie zum Umgang mit dem Begriff Ehre kritisch Stellung. Im so genannten Jüngeren Hildebrandslied, das zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert häufig gedruckt wurde, zeigt sich der christliche Einfluss in der ein Jahrtausend umfassenden Überlieferung. Er schloss im auf sein güldin helm und kust in an sein munt: Er öffnete ihm den goldenen Helm und küsste ihn auf den Mund: „Nun muess es got gelobet sein! Wir sint noch beid gesunt.“ „Nun soll Gott gelobt sein! Wir sind noch beide unversehrt.“ 2. Vergleichen Sie den Schluss des Jüngeren Hildebrandsliedes mit der älteren Vorlage und erläutern Sie genau, worin sich der Einfluss des Christentums zeigt. Der in die Tragödie führende Gedanke von der ritterlichen Ehre hat sich zur rührenden Familiengeschichte gewandelt. Neben diesen Resten germanischer Dichtung gibt es eine Fülle althochdeutscher Literatur christlichen Inhalts. Im 9. Jahrhundert entstanden zwei große Epen, die das Leben und die Lehre Jesu zum Thema haben. Sie gelten als der Anfang einer schriftlichen deutschen Literatur. Stabreim 2 4 6 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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