54 Schuld und Sühne Der Umgang mit Schuld, die die handelnden Personen auf sich laden, und die damit verbundene Sühne sind wesentlich für die Gattung Tragödie. Zu verschiedenen Zeiten wurde die tragische Schuld verschieden definiert. Aristoteles meint, dass der Held einer Tragödie „sich in großem Ansehen und in einer glücklichen Lebensstellung“ befinden müsse, weil nur der tiefe Fall das Publikum erschüttere. Diese Forderung wurde in späteren Poetiken (z.B. von Martin Opitz und Johann Christoph Gottsched) zur Ständeklausel (vgl. S. 60). Das bürgerliche Trauerspiel führt später nichtadelige Hauptpersonen im Trauerspiel ein, die einen tragischen Konflikt erleben. Die tragische Fallhöhe, mit der die Ständeklausel begründet wurde, wird darin nicht mehr als ausschlaggebend für die Wirkung eines Trauerspiels erachtet. Die tragische Schuld der griechischen Dramenhelden wird auf verschiedene Weise begründet: 1. Zwei gleich wichtige, aber miteinander unvereinbare sittliche Pflichten sollen erfüllt werden. Jede Entscheidung muss Schuld nach sich ziehen (Antigone). 2. Die Affekthandlung eines leidenschaftlichen Charakters zerstört die Ordnung (Medea). 3. Die Tat der Hauptfigur ist vom Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt, vorherbestimmt. So sagt der Ödipus des Sophokles, am Ende gebrochen durch die furchtbare Erkenntnis seiner schicksalsbedingten Schuld: Doch unser Schicksal gehe frei, wohin es will. Die deutschen Klassiker, Goethe und Schiller, verankern unter dem Einfluss des Christentums und der Aufklärung die tragische Schuld im sittlichen Charakter der Hauptfigur. Die Vorstellung von persönlicher Schuld setzt allerdings die Möglichkeit freier Entscheidung voraus. Schiller war zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch zu freier sittlicher Entscheidung befähigt sei. In der deutschen klassischen Tragödie wird aufgezeigt, wie der Mensch durch einen Bruch des Sittengesetzes schuldig wird und sühnt. Schiller lässt Maria Stuart in der Beichte vor ihrer Hinrichtung sagen: Gott würdigt mich, durch diesen unverdienten Tod Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen. Die Hauptfigur der deutschen klassischen Tragödie sühnt ihre Schuld mit dem Tod. In der Antike gab es – gerade in den erschütterndsten Tragödien – den „versöhnlichen“ Schluss: Der Muttermörder Orest wird von seinem Wahn geheilt; Ödipus findet in der Einsamkeit ein friedliches Ende, und Medea entschwindet nach der Ermordung ihrer Kinder in ihrem Drachengefährt. Das entscheidende Merkmal der antiken Auffassung von Tragödie liegt also nicht im Ausgang des Dramas, sondern in der tragischen Konfliktsituation bzw. der schicksalhaften Ausweglosigkeit. Im Naturalismus (vgl. S. 214) wird wiederum das Geschehen so dargestellt, dass der Mensch durch sein Milieu geprägt ist und damit nur bedingt Schuld auf sich laden kann, da der freie Wille durch Abstammung, Vererbung etc. eingeschränkt ist. Streng genommen ist der Mensch daher für die Naturalisten nicht schuldfähig. Tragische Schuld Klassik: Freie sittliche Entscheidung Naturalismus: Milieutheorie Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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