50 Formen des Aufbaus Im Zentrum der antiken Tragödie steht ein Konflikt, der im Lauf des Stückes abgearbeitet wird. Die griechischen Dichter verwendeten dazu zwei typische Formen des Aufbaus: Im Zieldrama (synthetischer Aufbau) setzt die Handlung auf der Bühne mit den konfliktauslösenden Ereignissen ein und strebt zeitlich fortlaufend, der chronologischen Reihenfolge entsprechend, dem Ende zu. Beispiel: Antigone von Sophokles. Im Enthüllungsdrama (analytischer Aufbau) sind die konfliktauslösenden Ereignisse bereits vor dem Einsetzen der Bühnenhandlung geschehen und weder den handelnden Personen noch dem Publikum zur Gänze bekannt. Das analytische Drama „enthüllt“ diese Ereignisse rückschauend wie ein Detektivroman, der mit der Tat beginnt und nach und nach die Vorgänge, die zu dem Verbrechen geführt haben, aufdeckt. Der Reiz des analytischen Dramas liegt darin, dass das Publikum mit den Bühnenfiguren nach der Lösung des „Falles“ sucht. Beispiel: König Ödipus von Sophokles. Der tragische Konflikt Die Tragödie Antigone von Sophokles zeigt exemplarisch den tragischen Konflikt, der die Handlung trägt. Der Stoff des Dramas stammt aus dem thebanischen1 Sagenkreis um Ödipus. Ödipus tötet den König von Theben und heiratet die Königin, ohne zu wissen, dass die beiden seine Eltern sind. Viele Jahre später erkennt er seine eigene Bluttat und bestraft sich selbst, indem er sich die Augen aussticht. Nach seinem Tod sollen seine Söhne, Eteokles und Polyneikes, Theben jährlich abwechselnd regieren. Eteokles will aber die Herrschaft nicht abgeben und vertreibt seinen Bruder. Dieser kehrt an der Spitze eines Heeres zurück, um Theben für sich zu erobern. Im Nahkampf töten die Brüder einander. Ihr Onkel, Kreon, übernimmt die Regierung. Er lässt Eteokles, den Verteidiger der Stadt, in einem Ehrengrab beisetzen, die Leiche des Polyneikes, des „Landesfeindes“, aber soll unbestattet verwesen. Die Todesstrafe droht dem, der dieses Gebot übertritt. Antigone, eine der beiden Schwestern der feindlichen Brüder, handelt dem Befehl des Königs zuwider; sie begräbt ihren Bruder Polyneikes, da nach antikem Glauben die Seele eines Unbestatteten nicht zur Ruhe kommen kann. Antigone wird bei ihrer Tat ertappt und von Wächtern vor König Kreon geführt. Sophokles: Antigone (442 v. Chr.) KREON: Hast du gewusst, dass es verboten war? ANTIGONE: Ich wusst’ es. – Wie denn nicht? – War’s doch bekannt. KREON: Und dem zu trotzen hast du doch gewagt? ANTIGONE: Ja, denn von Zeus nicht kam mir das Gebot. [...] Wie konnt’ ich glauben, dass, was du befiehlst, das ungeschriebne ewige Gesetz der Götter konnte beugen und besiegen, obwohl’s ein Mensch nur gab, der sterblich ist. Denn nicht von heut und gestern, sondern ewig lebt dies Gesetz in uns, in unsrer Brust, und niemand weiß den Tag, seit wann es ist. Für dieses wollt’ ich nicht aus feiger Furcht Thebanischer Sagenkreis 1 thebanischen: zu Theben in Böotien gehörig 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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