EINFLUSS DES GRIECHISCHEN DRAMAS AUF DIE DEUTSCHE LITERATUR 49 Die drei Einheiten der griechischen Tragödie Der griechische Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) beschrieb in seiner Poetik unter anderem das Wesen und die Merkmale der Tragödie. Dabei hatte er die Werke der attischen1 Tragiker, besonders die von Aischylos, Sophokles und Euripides, vor Augen. Aristoteles verlangt von der Tragödie die „Darstellung einer abgeschlossenen und ganzen Handlung“. Sie darf sich nicht in Nebenhandlungen verlieren, sondern muss ein in sich geschlossenes Geschehen sein. Dies bedeutet, dass jede Phase der Handlung aus der vorhergehenden in einer logisch-kausalen Folge entwickelt werden muss. Die in sich geschlossene Handlung deutete man in den Poetiken der Renaissance und später als Einheit der Handlung. Die Einheit der Zeit ergibt sich aus der geschlossenen Handlung. So durfte der dargestellte Zeitraum die Spanne von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang nicht überschreiten. Die Einheit des Ortes war die notwendige Folge des starren Bühnenaufbaus. Die Stücke durften nur an einem einzigen Ort spielen. Ortswechsel waren nicht möglich. Mit verschiedenen Kunstgriffen konnte der Autor dem Publikum Geschehnisse mitteilen, die sich vor dem Einsetzen der Bühnenhandlung zugetragen hatten, an einem anderen Ort abliefen oder nicht darstellbar waren. Botenbericht: Ein Bote erscheint und berichtet über Ereignisse, die nicht darstellbar waren. Mauerschau: Eine Figur sieht über eine Absperrung und schildert, was sich hinter dieser Mauer, außerhalb des Blickfeldes des Publikums abspielt. Der Schweizer Autor Friedrich Dürrenmatt (1921 – 1990) beschreibt die wesentlichen Facetten der Vorgaben des Aristoteles folgendermaßen: Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme (1955) [Es ist] etwa zweifellos, daß die Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, die Aristoteles, wie man lange meinte, aus der antiken Tragödie folgerte, als Ideal einer Theaterhandlung gefordert ist. […] Die Einheit des Aristoteles ist die Forderung nach größter Präzision, größter Dichte und größter Einfachheit der dramatischen Mittel. […] Wenn ich mich anschicke, eine Handlung zu schreiben, die sich, sagen wir, innerhalb zweier Stunden am selben Ort entwickeln und abspielen soll, so muß diese Handlung eine Vorgeschichte haben, und diese Vorgeschichte wird um so größer sein müssen, je weniger Personen mir zur Verfügung stehen. Das ist eine Erfahrung der praktischen Dramaturgie, eine empirische Regel. Unter einer Vorgeschichte verstehe ich die Geschichte vor der Handlung auf der Bühne, eine Geschichte, die erst die Bühnenhandlung möglich macht. […] Auch ist die Bühnenhandlung in der Regel kürzer als das Geschehen, das sie schildert, sie setzt oft mitten im Geschehen ein, oft erst gegen den Schluß: Ödipus muß zuerst seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet haben, Handlungen, die eine gewisse Zeit benötigen, bevor das Theaterstück des Sophokles einsetzen kann. Die Bühnenhandlung konzentriert ein Geschehen, je mehr sie der Einheit des Aristoteles entspricht: Um so wichtiger wird daher die Vorgeschichte, hält man an der Einheit des Aristoteles fest. […] Die griechische Tragödie nun lebt von der Möglichkeit, die Vorgeschichte nicht erfinden zu müssen, sondern zu besitzen: […] Das Publikum wußte, worum es ging, war nicht so sehr auf den Stoff neugierig als auf die Behandlung des Stoffs. 2. Analysieren Sie die Aussagen Dürrenmatts zum aristotelischen Theater: • Fassen Sie die wesentlichen Punkte Dürrenmatts zusammen. • Erläutern Sie die Vor- und Nachteile, wenn ein Stück die Regeln des klassischen Theaters einhält. Poetik des Aristoteles 1 attisch: zu Attika, der Landschaft in und um Athen gehörig Geschlossenes Drama Die drei Einheiten 5 10 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==