Killinger Literaturkunde, Schulbuch

ALLGEMEINE MERKMALE VON TEXTEN 451 Figuren, Figurencharakteristik und Figurenkonstellation In epischen und dramatischen Gattungsformen kommen „stehende Figuren“ vor, Typen, die in vielen Werken erscheinen und meist nur eine oder einige wenige Eigenschaften haben. Im Märchen zum Beispiel gibt es die böse Stiefmutter, den strengen König, den Dümmling; im Schwank die keifende Alte, den dummen Bauern, den Doktor, der die Leute prellt. Schon in der Antike verwendete stehende Figuren haben sich zwei Jahrtausende erhalten: der neugierige Wirt (noch in Lessings Minna von Barnhelm), der prahlerische Soldat (in Max Frischs Andorra), der geizige Alte, der ein junges Mädchen heiraten möchte, der geldgierige Kaufmann und andere. Hinzu kommt die lustige Figur, die alle Lacher auf ihre Seite bringt: der Hanswurst, der Pickelhering, der Harlekin, der Schelm, der Diener. In der Dienerrolle kommt die lustige Figur noch bei Raimund (Lorenz in Der Bauer als Millionär, vgl. S. 184) und bei Nestroy vor. Die einfachste Art, eine Figur zu charakterisieren, ist die Zuteilung eines sprechenden Namens: Simplicissimus (Grimmelshausen), Rappelkopf (Raimund). Eine ähnlich einfache Möglichkeit der Charakterisierung ist das „schmückende Beiwort“ (Epitheton ornans), das mit dem Namen fest verbunden ist: der listenreiche Odysseus (Homer), der lendengewaltige Selcher (Wildgans), der fäusteschüttelnde Moses; die Herren mit den unbeherrschten Beinen (Thomas Mann). Von flacher Charakterisierung spricht man, wenn die Figur nur eine oder einige wenige Eigenschaften hat, wie im Märchen, im Schwank, in der Typenkomödie (Molière), im Volksstück, in der Trivialliteratur (Krimi). Runde Charakterisierung kann auf zweierlei Weise erfolgen: direkt (die Eigenschaften werden genannt) und indirekt (die Zuschauerinnen und Zuschauer bzw. Leserinnen und Leser müssen die Eigenschaften aus dem Verhalten und Sprechen der Figur erschließen). Die Figuren stehen in einem Beziehungsfeld; sie sind darin aufeinander bezogen, keine ist zufällig oder funktionslos. Die Figurenkonstellation ist ein Teil der Planung. Häufig werden zwei gegensätzliche Charaktere (Kontrastfiguren) einander gegenübergestellt, weil sich daraus Konflikte ergeben und damit Positionen geklärt werden können (Götz – Weislingen; Franz und Karl Moor, vgl. S. 117; Maria Stuart – Elisabeth I.; Don Carlos – Marquis von Posa, vgl. S. 146). Konkurrierende (ähnliche) Figuren werden vermieden. Ein Soziogramm macht die Gruppierung der Figuren deutlich. In Kabale und Liebe z. B. lassen sich die Figuren nach den Ständen ordnen. Die Verbindung zwischen den beiden Gruppen stellen einerseits Ferdinand, andererseits Wurm her. Adelige Ferdinand Bürgerliche Lady Milford Präsident von Kalb Luise Vater Miller Mutter Wurm Typische Figuren Sprechende Namen Charakterisierung Kontrastfiguren Soziogramm Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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