Killinger Literaturkunde, Schulbuch

450 Milieu Die Figuren können in einem geschlossenen Milieu oder in einer kontrastiven Umwelt leben. Die klassischen Dramen, die epischen Werke des Realismus und die Romane von Thomas Mann z. B. spielen in einem geschlossenen Milieu. In den bürgerlichen Trauerspielen des Sturm und Drang (Kabale und Liebe, vgl. S. 121), im Naturalismus (Hauptmann, Die Weber, Rose Bernd u. a.), im Woyzeck (vgl. S. 198) von Büchner stoßen die Gegensätze von Ständen, Klassen und Schichten aufeinander, woraus sich dramatische Konflikte ergeben. Till Eulenspiegel und die Schelmenromane älteren Typs erhalten ihre Spannkraft und ihren Reiz aus dem Zusammenprall der Habenichtse mit den Etablierten. Ein und derselbe Stoff kann in verschiedenen Milieus gestaltet werden. Schiller zeigt den Dreißigjährigen Krieg in den Piccolomini und in Wallensteins Tod als Spiel der Mächtigen, Brecht in Mutter Courage als Jagd auf die Ohnmächtigen. Der triviale Liebesroman spielt meist in einem geschlossenen, gehobenen Milieu, um die Tagträume der Leserinnen und Leser zu bereichern. Der Konflikt kann sich aber auch aus dem Gegensatz verschiedener gesellschaftlicher Stände (bürgerliches Mädchen – adeliger Liebhaber) ergeben. Jedes Milieu kann positiv und negativ, ernsthaft und satirisch dargestellt werden. So haben die Stürmer und Dränger die Welt des Adels als moralisch verwerflich gezeichnet, in der Romantik wurde sie idealisiert. Die bäuerliche Welt ist bei Rosegger gesund, natürlich und Gott zugewandt; die Arbeit auf der Scholle adelt. In den Romanen von Franz Innerhofer und in der Alpensaga von Wilhelm Pevny und Peter Turrini erscheint die gleiche bäuerliche Welt brutal, unmenschlich, zurückgeblieben. Kleinbürgerliches Milieu wird von Gottfried Keller liebevoll und humorvoll gespiegelt, von Ödön von Horváth und Gernot Wolfgruber satirisch, anklagend und demaskierend. Politischer, sozialer und kultureller Hintergrund Jeder Text entsteht in einem Geflecht von zeitgeschichtlichen Bedingungen, denen die Autorin oder der Autor unterworfen ist, in denen sie oder er lebt und zu denen sie oder er Stellung nimmt. Seit je haben Dichterinnen und Dichter die politische Situation in ihre Werke einbezogen und beurteilt: Walther von der Vogelweide hat seine Reichssprüche als politische Texte geschrieben, Bertolt Brecht hat den Klassenkampf in Dramen dargestellt. Die Stürmer und Dränger sowie die Jungdeutschen haben die absolutistische Fürstenmacht angeprangert, Autoren wie Wolf Biermann, Günter Kunert und Uwe Johnson die Unfreiheit in der ehemaligen DDR. Schriftstellerinnen und Schriftsteller kommen häufiger als andere Künstlerinnen und Künstler in Konflikt mit politischen Mächten. Das liegt an ihrem Darstellungsmittel, der Sprache, das von nahezu jedermann verstanden werden kann. Im Gegensatz zur oppositionellen steht die affirmative (zustimmende) Haltung, die in Staaten mit allgemein verbindlicher Ideologie den Dichterinnen und Dichtern Publikationsmöglichkeit, Erfolg und Wohlstand sichert, sie werden belohnt für ihr Wohlverhalten in einer autoritären Umwelt. Ein poetischer Text kann soziale Probleme und Spannungen aufzeigen oder sie übergehen, ja zudecken. Dementsprechend versuchen Autorinnen und Autoren gesellschaftsverändernd zu wirken (Kabale und Liebe) oder die Verhältnisse zu stabilisieren (das höfische Epos, der bäuerliche Heimatroman). Poetische Texte können im Hinblick auf Bildung sehr hohe Ansprüche an die Leserinnen und Leser stellen. Die Werke der Klassiker z. B. setzen größtenteils die Kenntnis der griechischen Mythologie voraus. Ohne diese Kenntnis bleibt vieles unverständlich. Im Gegensatz dazu setzten die Kurzgeschichten nach 1945 und die Romane und Dramen der Neorealisten keine literarische Bildung voraus. Geschlossene und gegensätzliche Umwelt Einstellung der Autorinnen und Autoren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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