Killinger Literaturkunde, Schulbuch

RENAISSANCE, HUMANISMUS, REFORMATION | 1450 – 1600 45 Das erfolgreichste Werk, Das Narrenschiff (1494), stammt von dem Professor der Rechtswissenschaften Sebastian Brant (1457 – 1521), einem wortgewaltigen Pessimisten. Er lädt alle Narren auf ein Schiff, das nach „Narragonien“ fährt. Auf diesem Schiff findet man zum Beispiel die Modenarren: Sebastian Brant: Von neuen Moden (1494) Wer neue Moden trägt durchs Land, gibt Ärgernis, verfällt in Schand und hält den Narren bei der Hand. Was einstens war ein schändlich Ding, das achtet jetzt man ganz gering. Trug man in Ehren einst den Bart, so liebt der Mann jetzt Weiberart. Man schmiert sich jetzt mit Affenschmalz und legt um den entblößten Hals viel Ring und große Ketten an, als wollt man vor Sankt Lienhard1 stahn. Mit Schwefel und Harz pufft man das Haar und schlägt darein dann Eierklar, dass es im Schüsselkorb2 werd kraus. Der hängt den Kopf zum Fenster raus, der bleicht es dann an Sonn und Feuer, darunter sind die Läus nit teuer. Die können es jetzt gut aushalten, weil alle Kleider sind voll Falten: Rock, Mäntel, Brusttuch, Mieder, Hemder, Pantoffel, Stiefel, Hosen, Gwänder, Pelzkappen, Mäntel mit Verbrämung nach Judenart ohn all Beschämung.3 Der neuen Mod die alte weicht; das zeigt, wie unser Gmüt ist leicht und wandelbar in alle Schand. Viel Modesucht geht durch das Land. So schändlich kurz sind jetzt die Röck, kaum dass den Nabel man bedeck. Pfui Schand der deutschen Nation, dass man der guten Sitt zum Hohn zeigt, was Natur verbergen möcht, drum steht es leider jetzt so schlecht! 9. Besprechen Sie oben stehenden Text: • Beschreiben Sie die Modeerscheinungen, die Brant in dem Text darstellt. • Vergleichen Sie diese mit den heutigen Modevorstellungen. • Erläutern Sie, wie der Autor zu den Veränderungen steht. • Überlegen Sie, wie Ihre Familienmitglieder auf veränderte Modevorstellungen reagieren. • Schreiben Sie mit Ihrer Sitznachbarin oder Ihrem Sitznachbarn einen passenden Dialog dazu und stellen Sie diesen der Klasse vor. 10. Fertigen Sie einen ähnlichen Text zum gleichen Thema an, der die heutige Mode aufs Korn nimmt. Versuchen Sie, die Versform des Originals nachzuahmen. Eine bedeutende lyrische Form der Epoche war neben dem Volkslied und dem Kirchenlied der Meistersang. Die Meistersinger fühlten sich als Erben der höfischen Poesie. Fahrende Handwerker und sesshafte Meister schrieben dreistrophige Lieder (Meistersangstrophe), die formal dem Minnesang nachgebildet waren und zu denen eine (selbst erfundene oder übernommene) Melodie gehörte. Die Stoffe entnahm man meist der Bibel. Die Lieder wurden im Rahmen der „Singschulen“ in Kirchen vorgetragen. Ein „Merker“ gab genau acht, ob wohl auch alle Regeln und Gesetze, die sich die Meistersinger selbst auferlegt hatten („Tabulatur“), eingehalten waren. Richard Wagner hat die Prozedur des Meistersingens in seiner Oper Die Meistersinger von Nürnberg (1868) nachgebildet. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 1 Sankt Lienhard: St. Leonhard, Schutzpatron der Gefangenen, dem sie nach ihrer Befreiung ihre Ketten darbringen 2 Schüsselkorb: flacher Korb, den man aufsetzte, um Locken zu pressen 3 antisemitische Anspielung auf den traditionellen jüdischen Kaftan Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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