ALLGEMEINE MERKMALE VON TEXTEN 449 ation charakterisiert, und zwar nicht nur in der Lyrik, sondern ebenso in einem Drama oder einem epischen Werk. Die Kammer der Jungfer Züs Bünzlin in Gottfried Kellers Die drei gerechten Kammmacher (vgl. S. 207) z. B. ist ein Spiegelbild des Menschen, der darin wohnt. Häufig vollzieht sich unheimliches, schicksalhaftes Geschehen in einer unheimlichen Landschaft, etwa der Tod des kleinen Tobias (Bahnwärter Thiel) auf den Schienen im Kiefernwald, den Gerhart Hauptmann in das Rot der untergehenden Sonne taucht: Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888) Die Säulenarkaden der Kiefernstämme jenseits des Dammes entzündeten sich gleichsam von innen heraus und glühten wie Eisen. Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich; aber sie erloschen zuerst. Und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, erst die Schäfte der Kiefern, weiter den größten Teil ihrer Kronen in kaltem Verwesungslichte zurücklassend, zuletzt nur noch den äußersten Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend. Lautlos und feierlich vollzog sich das erhabene Schauspiel. In Ilse Aichingers Kurzgeschichte Das Plakat (vgl. S. 338) heißt es im ersten Absatz: Ilse Aichinger: Das Plakat (1948) Der Himmel über den Schutzdächern war blau und gewalttätig, im gleichen Maß bereit, zu schützen und einzustürzen, und die Telegraphendrähte hatten längst zu singen aufgehört. Die Ferne hatte die Nähe verschlungen. Die Gestaltung des Raumes ist von der Autorin oder vom Autor, aber auch von der Epoche abhängig. Einen realen Raum findet man z. B. bei Adalbert Stifter (vgl. S. 191) und im Naturalismus (Gerhart Hauptmann, Émile Zola). Er ist der Wirklichkeit nachgebildet; oft sind sogar Örtlichkeiten identifizierbar oder genannt (Adalbert Stifter, Böhmerwald; Peter Rosegger, Waldheimat; Heimito von Doderer, Strudlhofstiege; Paula Grogger, Grimmingtor; Ingeborg Bachmann, Manhattan). Der ideale Raum ist nach den Vorstellungen der Autorin oder des Autors und der Zeit gebildet: Die Romantikerinnen und Romantiker gestalteten eine hügelige Landschaft mit Wäldern und Bächen, an denen Mühlen klappern; Wolken ziehen eilig, die Nächte sind vom Mond erhellt. Das Schloss liegt in einem verwilderten Park mit Marmorstatuen und Brunnen. Auch das Märchen kennt nur den idealen Raum mit typischen Kulissen, wie z. B. dem finsteren Wald, dem gewaltigen Schloss und der Hütte der Alten. In einem irrealen Raum spielen die Werke der Expressionisten und Surrealisten und der Dramatiker des Absurden wie z. B. oft expressionistische und surrealistische Werke wie z. B. die Werke Kafkas (Vor dem Gesetz, Auf der Galerie, Eine kaiserliche Botschaft, vgl. S. 254ff., In der Strafkolonie), wie auch im absurden Theater. Der Raum und die Gegenstände darin haben oft den Wert von Symbolen und Chiffren. Die Bedeutung der Wörter (z. B. der Farbadjektive) stimmt nicht mit ihrer Bedeutung im üblichen Sprachgebrauch überein. Epische Großformen stellen meist ein Zeitbild dar, sie greifen über Zeiten und Räume hinaus. Das einfachste Mittel, viel Raum einzubeziehen, ist häufiger Ortswechsel. Und so schicken denn die Epikerinnen und Epiker ihre Figuren gern auf Wanderschaft: Odysseus muss in so exotische Gegenden wie die Urlandschaft der Kyklopen und die Insel der Lästrygonen, und schließlich bleibt ihm auch die Unterwelt nicht erspart. Je weiter entfernt und je exotischer das Land, umso eher kann die Erzählerin oder der Erzähler mit der Neugier der Leserschaft rechnen. 5 Möglichkeiten der Raumgestaltung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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