32 „Auf, rufet mir alle Fischer daher, Sie sollen fischen bis an das rote Meer, Dass sie mein feines Lieb suchen!“ Es kommen gleich alle Fischer daher, Sie haben gefischt bis an das rote Meer, Bernauerin haben sie gefunden. Sie legen’s dem Herzog wohl auf den Schoß, Der Herzog viel tausend Tränen vergoss, Er tät gar herzlich weinen. „So rufet mir her fünftausend Mann, Einen neuen Krieg will ich nun fangen an Mit meinem Herrn Vatern eben! Und wär mein Herr Vater mir nicht so lieb, So ließ ich ihn aufhängen als wie einen Dieb, Wär aber mir eine große Schande.“ Es stund kaum an den dritten Tag, Dem Herzog kam ein traurige Klag: Sein Herr Vater ist gestorben. „Die mir helfen meinen Herrn Vater begraben, Rote Mäntel müssen sie haben, Rot müssen sie sich tragen. Und die mir helfen mein Feinslieb1 begraben, Schwarze Mäntel müssen sie haben, Schwarz müssen sie sich tragen! So wollen wir stiften ein ewige Mess2, Dass man der Bernauerin nicht vergess, Man wolle für sie beten.“ 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 1 Feinslieb: Geliebte 2 ewige Mess: Stiftung, damit jedes Jahr am Todestag der Verstorbenen gedacht und für sie gebetet wird 66 68 2. Interpretieren Sie diese Ballade: • Fassen Sie den Inhalt kurz zusammen. • Analysieren Sie die formale und sprachliche Gestaltung (Aufbau, Strophen, Verse, Reim, Sprache, Stil). • Arbeiten Sie die Unterschiede zwischen der Volksdichtung und der realen Geschichte heraus. • Erläutern Sie, welche Interessen einander gegenüberstehen. • Untersuchen Sie, auf wessen Seite der Balladendichter steht. • Stellen Sie Überlegungen darüber an, warum das Erzählgedicht vom Tod der Bernauerin zu einer der beliebtesten Volksballaden wurde. KUNSTBALLADE Die Kunstballade hat ihren Ursprung im schottischen Volkslied. 1760 veröffentlichte James Macpherson (1736 – 1796) die Lieder Ossians, angeblich Dichtungen eines altschottischen Barden (keltischen Liedermachers). Erst etwa 100 Jahre später konnte man nachweisen, dass es sich um Gedichte von Macpherson selbst handelte. Die Lieder Ossians sind durch starke Leidenschaftlichkeit und die Beschwörung des Geisterhaften gekennzeichnet. Deswegen war ihre Wirkung auf die jungen Dichter des Sturm und Drang (1770 bis 1785), die bestrebt waren, den Rationalismus ihrer aufgeklärten Väter abzuschütteln, ungeheuer groß. Man dichtete in der „schottischen Manier“ (z. B. Gottfried August Bürger, Lenore, 1773). Damit begann im deutschen Raum die Entwicklung der Kunstballade, zunächst in Form der Geisterballade. Sie stellt dar, wie der Mensch an einer ihm unbegreiflichen, überlegenen Macht scheitert. Beispiele: Goethe, Der Erlkönig; Mörike, Der Feuerreiter; Fontane, Die Brück’ am Tay. Die Klassiker, besonders Schiller, entwickelten den Typus der Ideenballade. Im Mittelpunkt steht eine Schottische Volkslieder Formen der Kunstballade Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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