318 Am Ende des Stückes verfügt Kaspar über eine Sprache. Er ist zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft geworden: KASPAR: Ich kann mich verständlich machen [...] Dadurch, dass ich sage: der Stuhl ist harmlos, ist es mit der Harmlosigkeit des Stuhls auch schon vorbei [...] Ich weiß, wo alles hingehört. Ich habe den Blick für das rechte Maß. Ich nehme nichts in den Mund. Ich kann bis drei lachen. Ich bin brauchbar. Ich höre auf große Entfernungen Holz verwesen. Ich nehme nichts mehr wörtlich. Ich kann es nicht erwarten aufzuwachen, während ich es früher nicht erwarten konnte einzuschlafen. Ich bin zum Sprechen gebracht. Ich bin in die Wirklichkeit übergeführt [...] wörtlich: bei jedem neuen Satz wird mir übel: bildlich: ich bin durcheinander gebracht: man hat mich in der Hand: ich schaue auf die andere Seite: es herrscht eine unblutige Stille [...] 40. Analysieren Sie, welchen Zustand Kaspar durch das Erlernen der Sprache erreicht zu haben glaubt. WIEDERBELEBUNG DES VOLKSSTÜCKS Die wiederbelebte Tradition des Volksstückes schließt an die Zwischenkriegszeit an. Die Texte sind getragen von Kritik am Umgang der Menschen untereinander. Neben Gesellschaftskritik werden auch die mangelnde sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Personen, ihre Sprachlosigkeit und ihre Unfähigkeit, Probleme zu lösen, thematisiert. Vertreter des neuen Volksstücks sind: Franz Xaver Kroetz (geb. 1946): Weitere Aussichten (1975), Das Nest (1975), Nicht Fisch, nicht Fleisch (1981), Bauern sterben (1985), Der verkaufte Großvater (1998) u. a. Martin Sperr (1944 – 2002): Jagdszenen aus Niederbayern (1966) Peter Turrini (geb. 1944): rozznjogd (1971), sauschlachten (1972), Alpensaga (sechsteilige Fernsehserie, 1974 – 1979), Josef und Maria (1980), Tod und Teufel (1990), Eine Liebe in Madagaskar (1998), Jedem das Seine (2007) u. a. Felix Mitterer (geb. 1948): Kein Platz für Idioten (1977), Veränderungen (1979), Stigma (1982), Sibirien (1989), Die Piefke-Saga (Fernsehserie, 1991), Die Beichte (2004), 1809 – Mein bestes Jahr (2009) u. a. Der Bayer Franz Xaver Kroetz stellt in meist kurzen Szenen kennzeichnende Situationen aus dem Alltag kleiner Leute dar. Dabei werden die Verständnislosigkeit der Menschen füreinander, ihre mangelhafte Fähigkeit, Konflikte mit Worten auszutragen, ihre seelische Verkrüppelung und zunehmende Verspießerung aufgezeigt. Die Männer drücken sich aus Sorge um ihren Arbeitsplatz vor der Solidarität mit den Kollegen dem Arbeitgeber gegenüber und scheitern häufig im Familienleben. Im Stück Mensch Meier (1977) zeigt Kroetz drei Personen, Otto und Martha, ein Ehepaar, und deren 15-jährigen Sohn Ludwig, der gern spät aufsteht und meist seinen Kassettenrekorder laufen hat. Otto und Martha waren im Supermarkt einkaufen. Erst an der Kasse hat Martha entdeckt, dass in ihrer Geldbörse 50 Mark fehlen. Sie konnten den Einkauf nicht bezahlen und genierten sich deswegen sehr. Die nächste Szene spielt zu Hause in der Küche. Sprache ordnet den Menschen in die Gesellschaft ein 25 30 Banalität im Alltag Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==