Killinger Literaturkunde, Schulbuch

316 Wie viele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir „Zeichen“, „Worte“, „Sätze“ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen. (Ein ungefähres Bild davon können uns die Wandlungen der Mathematik geben.) Das Wort „Sprachspiel“ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit oder einer Lebensform. Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen – Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung (Zeichnung) – Berichten eines Hergangs – Über den Hergang Vermutungen anstellen – Eine Hypothese aufstellen und prüfen – Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme – Eine Geschichte erfinden; und lesen – Theater spielen – Reigen singen – Rätsel raten – Einen Witz machen; erzählen – Ein angewandtes Rechenexempel lösen – Aus einer Sprache in die andere übersetzen – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten. Peter Handke (geb. 1942), der an Wittgenstein anschließt, schreibt in der Vorrede zu seinem frühen Stück Kaspar (1967): Das Stück „Kaspar“ zeigt nicht, wie ES WIRKLICH IST oder WIRKLICH WAR mit Kaspar Hauser. Es zeigt, was MÖGLICH IST mit jemandem. Es zeigt, wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann. Das Stück könnte auch „Sprechfolterung“ heißen. Der reale Kaspar Hauser Der reale Kaspar Hauser (1812 – 1833), der im Alter von etwa 16 Jahren in Nürnberg gefunden wurde, konnte nur beschränkt lesen und sprechen und galt als geistig zurückgeblieben. Er gab an, jahrelang in einem Verlies gehalten worden zu sein. Seine Herkunft blieb unklar. Er erregte bald das Interesse der Öffentlichkeit und der Wissenschaft, da man glaubte, an ihm die Entwicklung der Sprache studieren zu können. Schließlich verstarb er vermutlich an einer selbst zugefügten Stichwunde. In Handkes Stück lernt der zunächst sprachlose Kaspar allmählich mit den Gegenständen des täglichen Lebens umzugehen. Einsager, Stimmen, die aus allen Ecken auf ihn eindringen, bringen ihm Wörter, Sätze, die Sprache bei und schreiben ihm sein Verhalten vor. 5 10 15 20 25 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==