Killinger Literaturkunde, Schulbuch

304 LYRIK DER POSTMODERNE In den Jahren nach 1975 erkannten die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, dass sie mit ihren gesellschaftskritischen, tagespolitisch engagierten Gedichten rein gar nichts verändern oder bewegen konnten. Auch die Neigung zu experimentellen und sprachspielerischen Texten schwand. Das Pendel schlug in die Gegenrichtung aus: Die Autorinnen und Autoren entdeckten den einzelnen Menschen, das Private und Intime, sich selbst. In einem Gedicht der einst so aktivistischen Gabriele Wohmann (1932 – 2015) heißt es: Bei meinem Versuch, nach etwas Belangvollem Ausschau zu halten, mich den wahren Sorgen der Menschheit zuzuwenden und von mir abzusehen, bin ich auf mich gestoßen. Die so genannte Postmoderne ist keine einheitliche Strömung, sie ist nur durch eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Erscheinungen zu charakterisieren. Folgende Merkmale treten in der Lyrik der Postmoderne häufig auf: • Das Ich wird wieder wichtig, es entsteht ein „subjektiver Realismus“. • Das Alltägliche, oft Banale wird im Plauderton ausgedrückt. Es sind einfache Mitteilungen, manchmal mit Orts- und Zeitangaben, nicht Ewig-Seiendes in chiffrierter Sprache und nicht Politisch-Gesellschaftskritisches. • Die amerikanische Popkultur übt ihren Einfluss aus: Man setzt sich mit trivialen Formen des Massenkonsums auseinander. • Themen aus dem erotischen und sexuellen Bereich werden unverhüllt dargestellt. • Ausdrucksmittel ist die Alltagssprache mit groben Tönen („dirty speech“). Absicht ist ein Schockeffekt, der die Leserin und den Leser aufmerksam machen soll. • Die Form ist ungeglättet. Das Gedicht verändert seine Form radikal: Die Verse sind meist unterschiedlich lang, die Gliederung in regelmäßige Strophen fehlt, der Rhythmus „fließt“ nicht mehr, Wohlklang wird nicht angestrebt. Jegliches Pathos ist verpönt. • Die Gedichte der Postmoderne enthalten keine tiefen Geheimnisse, keine Verschlüsselungen durch Metaphern und Chiffren. Sie sind daher leicht zugänglich. Wolf Wondratschek: Gedicht „XXX“ (o. J.) Jetzt schreiben sie alle einen ziemlich flotten Stil, knallhart, anbetungswürdig banal, mit ein paar eingestreuten surrealistischen Tatsachen, ein paar Kleinigkeiten in Lebensgröße und, ohne viel Worte, jede Menge Übertreibungen. Hauptsache, es klingt nicht besser als die Zeitung und du verstehst, was ich meine. Das ist augenblicklich modern: die Oberfläche, das Unterhemd, das Innenleben der Muskeln, ... und die Schwäche für Kraftausdrücke ist das Stärkste, was sie zu bieten haben. 27. Diskutieren Sie Wolf Wondratscheks Zugang zu der gangigen Lyrik seiner Zeit: • Erlautern Sie, welche Aspekte der Autor hervorhebt. • Stellen Sie Form und Inhalt dieses Textes einander gegenuber. • Kommentieren Sie seine Haltung in Bezug auf moderne Lyrik. Hinwendung zum Ich Merkmale postmoderner Lyrik 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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