DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 303 ziert, und das war schon das Beste, was man tun konnte. An einer anderen Stelle heißt es: Das „freie“ oder „totale“ Gedicht, das ich anstrebe, ist meiner Vorstellung nach ein Gedicht, das einen Ausschnitt aus der Gesamtheit meines Bewusstseins von Welt bringt. „Welt“ verstanden als etwas Vielschichtiges, Dichtes, Bruchstückhaftes, Unauflösbares. Friederike Mayröckers Texte lesen sich wie eine Traumsprache, offen, sprunghaft, aber voller poetischer Stimmungen und Bilder: Friederike Mayröcker: Die marmorne die steinkühle die vorfrühlingsgraue Zauberei (1960–1962) Die marmorne die steinkühle die vorfrühlingsgraue Zauberei die ahnungsvolle flügelschlagende Zauberei hat mich endlich berührt. Ich erkenne dass ich nichts mehr vermag gegen sie als mich ihr hinzugeben mit sinkenden Armen berstenden Lidern, mit vergeblichen Zauberformeln die niemand aufgeschrieben hat. Du hast mich so mächtig verzaubert, dass ich nun nicht mehr weiß was ich dir für einen Namen geben soll ob ich dich rufen darf ob ich dir mein Lächeln nachsenden soll wie einen Brief über die Hügel der Stadt über den nächtlichen Strauß der Sterne durch den Blasebalg des Winds. Du hast mich ins Fröhliche verwandelt und strahlend gemacht und ich erkenne dass die schöne Erde bespannt ist mit deiner Haut und dein Mund ist ein römischer Brunnen-Mund1 und ich kann meine Hand in seine fließenden Segnungen legen und dein Auge von dem ich nie weiß welche Farbe es hat (ist es honiggelb oder blau wie Nächte im Frühling?) ist ein Bullauge geworden in einem weißen Schiff ein Bullauge groß und bekränzt mit Meer-Rosen und mit diesem weißen Schiff fahren wir weit ... 26. Setzen Sie sich mit der Beziehung, die das lyrische Ich in diesem Gedicht beschreibt, auseinander: • Analysieren Sie, welche Aspekte der Beziehung in dem Text dargestellt werden. • Erlautern Sie, mit welchen sprachlichen Mitteln diese Inhalte vermittelt werden. • Diskutieren Sie die Gefühle, die dieses Gedicht Jahrzehnte später in Ihnen auslöst. Römischer Brunnen-Mund (Bocca della Verità): Relief in der römischen Kirche Santa Maria in Cosmedin. 2 4 6 8 10 12 14 16 1 Einer mittelalterlichen Legende nach verliert jeder seine Hand, der sie in den Mund des Reliefs legt und dabei nicht die Wahrheit sagt. 18 20 22 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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