DEUTSCHSPRACHIGE LITERATUR NACH 1945 297 sondern ist partnerzugewandt. Ihre oder seine Gedichte sollen unmittelbaren Gebrauchswert haben. Da das kritische Gedicht unser Umfeld beleuchtet, beschäftigt es sich auch mit der Frage: Wie wird Sprache im öffentlichen und im privaten Leben verwendet? Welche Sprach- und Denkformen haben sich festgesetzt und verhindern ein freies Urteil? Hans Magnus Enzensberger (1929 – 2022) übte in seinen Gedichten und in seinen Essays besonders deutlich Kritik an politischen und gesellschaftlichen Phänomenen, wie z. B. an der Rolle der Medien, deren Macht er hinterfragt. Hans Magnus Enzensberger: An alle Fernsprechteilnehmer (1958) Etwas, das keine Farbe hat, etwas, das nach nichts riecht, etwas Zähes, trieft aus den Verstärkerämtem, setzt sich fest in die Nähte der Zeit und der Schuhe, etwas Gedunsenes, kommt aus den Kokereien, bläht wie eine fahle Brise die Dividenden und die blutigen Segel der Hospitäler, mischt sich klebrig in das Getuschel um Professuren und Primgelder, rinnt, etwas Zähes, davon der Salm stirbt, in die Flusse, und sickert, farblos, und tötet den Butt auf den Bänken. Die Minderzahl hat die Mehrheit, die Toten sind uberstimmt. In den Staatsdruckereien rustet das tuckische Blei auf, die Ministerien mauscheln, nach Phlox und erloschenen Resolutionen riecht der August. Das Plenum ist leer. An den Himmel daruber schreibt die Radarspinne ihr zähes Netz. Die Tanker auf ihren Helligen wissen es schon, eh der Lotse kommt, und der Embryo weiß es dunkel in seinem warmen, zuckenden Sarg: Es ist etwas in der Luft, klebrig und zäh, etwas, das keine Farbe hat (nur die jungen Aktien spuren es nicht): Gegen uns geht es, gegen den Seestern und das Getreide. Und wir essen davon und verleiben uns ein etwas Zähes, und schlafen im bluhenden Boom, im Funfjahresplan, arglos schlafend im brennenden Hemd, wie Geiseln umzingelt von einem zähen, farblosen, einem gedunsenen Schlund 12. Analysieren Sie das Bedrohungsszenario, das Hans Magnus Enzensberger hier beschreibt: • Lesen Sie den Text und schlagen Sie Ihnen unbekannte Begriffe nach (in einschlägigen Werken oder dem Internet). • Bestimmen Sie die Adjektive, die das bedrohliche „etwas“ beschreiben. • Nennen Sie Verben, die mit „etwas“ verbunden werden. • Erläutern Sie, wo dieses „etwas“ auftritt und was es bewirkt. • Fassen Sie die apokalyptische Vision, die der Autor schildert, zusammen. 13. Interpretieren Sie das vorliegende Gedicht: • Geben Sie die Aussage des Gedichtes in eigenen Worten wieder. • Stellen Sie Vermutungen an, in welcher Absicht das Gedicht geschrieben ist und an wen es sich richtet. • Diskutieren Sie die Aktualität des Textes. 14. Verfassen Sie ein aktuelles Gedicht unter dem Titel: An alle Internetuser. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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