296 Der zweite und letzte Gedichtband, Anrufung des Großen Bären (1956), thematisiert unter anderem die bedingungslose Liebe, die jedoch an der eigenen Verstörtheit und am Wesen der Männer scheitert. Den Abschluss der Gedichtsammlung bilden die Lieder auf der Flucht, einer Flucht vor sich selber. In einem der Lieder heißt es: Ingeborg Bachmann: Lieder auf der Flucht, XIII (1956) Die Sonne wärmt nicht, stimmlos ist das Meer. Die Gräber, schneeverpackt, schnürt niemand auf. Wird denn kein Kohlenbecken angefüllt mit fester Glut? Doch Glut tut’s nicht. Erlöse mich! Ich kann nicht länger sterben. Der Heilige hat anderes zu tun; er sorgt sich um die Stadt und geht ums Brot. Die Wäscheleine trägt so schwer am Tuch; bald wird es fallen. Doch mich deckt’s nicht zu. Ich bin noch schuldig. Heb mich auf. Ich bin nicht schuldig. Heb mich auf. Das Eiskorn lös vom zugefrornen Aug, brich mit den Blicken ein, die blauen Gründe such, schwimm, schau und tauch: Ich bin es nicht. Ich bin’s. 10. Analysieren Sie diesen Text nach inhaltlichen und sprachlichen Gesichtspunkten: • Erlautern Sie das Lebensgefuhl, das dieser Text vermittelt. • Beschreiben Sie besonders auffallige Ausdrucksweisen. • Bestimmen Sie Parallelen zu dem Gedicht Die gestundete Zeit. 11. Erarbeiten Sie eine Interpretation dieses Textes mit einer Partnerin/einem Partner: • Schreiben Sie zunächst Kommentare, Bemerkungen, Zwischenrufe, Einwände, Beschwichtigungen, Zusätze etc. zwischen die Zeilen. • Tragen Sie dann das Gedicht mit einer Partnerin/einem Partner vor. Eine Stimme liest den Originaltext, die andere Stimme gibt die Anmerkungen wieder. ZEIT- UND GESELLSCHAFTSKRITISCHES GEDICHT Das zeit- und gesellschaftskritische Gedicht zeigt Missstände auf bzw. Zustände, die als Missstände gesehen werden. Damit unterscheidet sich diese Art von Lyrik, die es seit Walther von der Vogelweide gibt, grundsätzlich von der Erlebnislyrik (Ich-Lyrik), die nur die Befindlichkeit des lyrischen Ichs im Auge hat. Die Absicht gesellschaftskritischer Gedichte ist der Appell zur Veränderung. Die Autorin bzw. der Autor versucht, mit der Leserin oder dem Leser ein Gespräch zu führen; sie bzw. er monologisiert nicht, Identitätsfindung 2 4 6 8 10 12 14 16 Appell zur Veränderung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==