Killinger Literaturkunde, Schulbuch

HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 27 Das für Walthers Minnebegriff Kennzeichnende an diesem Traumbild ist, dass es sich um eine „maget“ handelt, ein Mädchen also, das nicht den Spielregeln des höfischen Gesellschaftslebens unterworfen ist; sie darf seine Liebe erwidern. Aber sie ist zugleich ein „kint, daZ êre hât“: Sie hat die innere Haltung und den anmutigen Anstand einer höfischen „frouwe“. Deswegen redet der Sänger sie mit „frouwe“ und „ir“ an. Viele seiner Zeitgenossen haben Walthers Lieder auf die „maget-frouwe“ als Verrat am hohen Minnesang getadelt. „Si verwîsent mir, daZ ich / sô nidere wende mînen sanc“ (Sie tadeln mich, dass mein Gesang den Stand nicht achtet.), beklagt sich Walther in einem seiner Mädchenlieder. Und er gibt den Vorwurf scharf zurück: Seine Kritiker wüssten nicht, was Liebe ist; „si getraf diu liebe nie“ (Sie haben die Liebe nie erlebt.). Er stellt den Begriff „liebe“ oder „herzeliebe“ als Bezeichnung einer natürlichen, auf Gegenseitigkeit gegründeten und erfüllten Liebesbeziehung in Gegensatz zum Begriff der „hôhen minne“, der die einseitige, sich in endloser Sehnsucht verzehrende Bindung des adeligen Mannes an eine „überhêre“, eine in unerreichbare Höhe idealisierte „frouwe“, meint. Die politische Spruchdichtung Texte, in denen Dichter ihre politischen und gesellschaftlichen Auffassungen vorbrachten, bezeichnet man als Spruch. Sie sind meist paarweise gereimt, allerdings ohne strophische Gliederung. Der Inhalt hat eine lehrhafte Tendenz. Walther von der Vogelweide kam als fahrender Sänger an viele Fürstenhöfe und auf viele Ritterburgen und kannte daher die Probleme der großen Politik und die allgemeinen Zustände im Reich. Er setzte sich leidenschaftlich für ein starkes Königtum und für die Wahrung von Recht und Ordnung ein. Da Walther sowohl im Dienst der Staufer als auch der Welfen (der beiden konkurrierenden Adelsfamilien) stand, dichtete er jeweils auch im Interesse seiner Gönner. 15. Bilden Sie Kleingruppen und diskutieren Sie die finanzielle Lage von Kunstschaffenden wie Walther von der Vogelweide im Mittelalter und von Autorinnen und Autoren in der heutigen Zeit: • Recherchieren Sie die finanzielle Lage Walthers, der ein durchaus erfolgreicher Autor seiner Zeit war. • Argumentieren Sie, inwiefern eine politische Einflussnahme auf Künstlerinnen und Künstler als auch Journalistinnen und Journalisten ein Problem darstellt. Drei von Walthers politischen Spruchgedichten werden ihrer Thematik wegen Reichssprüche genannt. Der politische Hintergrund der ersten beiden Reichssprüche sind die Wirren und die Rechtsunsicherheit, die nach dem Tod Kaiser Heinrichs VI. (1197) durch die Doppelwahl von Philipp von Schwaben, dem Staufer, und Otto IV. von Braunschweig, dem Welfen, 1198 entstanden waren. Wende im Minnesang Materielle Abhängigkeit Heinrich VI., Röm.-Deut. Kaiser 15.4.1191 – 28.9.1197, erstes Kaisersiegel Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==