Killinger Literaturkunde, Schulbuch

26 Walther von der Vogelweide: Nemt, frouwe, disen kranz (ca. 1200) „Nemt, frouwe, disen kranz!“ Nehmt, Herrin, diesen Kranz!“ alsô sprach ich z’einer wol getânen maget. So sagte ich zu einem schönen Mädchen. „sô zieret ir den tanz „Dann schmückt Ihr den Tanz mit den schœnen bluomen, als irs ûffe traget. mit den schönen Blumen in Euerm Haar. het ich vil edele gesteine, Hätt ich wertvolle Edelsteine, daZ müest ûf iur houbet, dann müssten sie auf Euer Haupt, obe ir mirs geloubet. wenn ihr es mir glauben wollt. sêt mîne triuwe, daZ ichZ meine.“ Wirklich, ich meine es ehrlich.“ Si nam, daZ ich ir bôt, Und sie nahm das Gebotene an, einem kinde vil gelîch, daZ êre hât. wie ein junges Mädchen, das wohlerzogen ist. ir wangen wurden rôt, Sie errötete, same diu rôse, dâ si bî der liljen stât. wie eine Rose, die unter Lilien steht. do erschamten sich ir liehten ougen. Scham ließ sie die leuchtenden Augen niederschlagen. doch neic si mir vil schône; Dabei verneigte sie sich vor mir anmutig; daZ wart mir ze lône. das war mein Lohn. wirt mirs iht mêr, daZ trage ich tougen. Schenkt sie mir noch mehr dafür, dann werde ich das für mich behalten. „Ir sît sô wol getân „Ihr seid so schön, daZ ich iu mîn schapel gerne geben wil, dass ich Euch meinen Kranz schenken will, so ichZ aller beste hân. den schönsten, den ich habe. wîZer unde rôter bluomen weiZ ich vil. Weiße und rote Blumen kenne ich viele. die stênt niht verre in jener heide. Die stehn da fern auf jener Heide. dâ si schône entspringent Da wo sie blühen und die vogele singent, und die Vögel singen, dâ suln wir si brechen beide.“ da wollen wir sie beide pflücken.“ Mich dûhte, daZ mir nie Mir schien, dass ich nie lieber wurde, danne mir ze muote was. glücklicher war als da. die bluomen vielen ie Und immerfort rieselten die Blüten der Bäume von dem boume bî uns nider an daZ gras. zu uns nieder aufs Gras. seht, dô muost ich von fröiden lachen. Ja seht, da musste ich lachen in all meinem Glück. was in troume riche, Als ich gerade träumte, dô taget’ eZ und muos’ ich wachen. wurde es Tag und ich erwachte. Mir ist von ir geschehen, Nun hat sie mich so weit gebracht, daZ ich disen sumer allen meiden muoZ dass ich diesen Sommer allen Mädchen vast under d’ougen sehen. tief in die Augen sehen muss. lîhte wirt mir einiu: so ist mir sorgen buoZ. Vielleicht finde ich sie: Dann bin ich allen Kummer los. waZ obe si gêt an disem tanze? Ob sie wohl zu diesem Tanz geht? „frouwe, dur iur güete „Meine Damen, bitte rucket ûf die hüete!“ rückt die Hüte ein wenig aus der Stirn!“ owê, gesæhe ich si under kranze! Ach, erblickte ich sie doch unter dem Kranz! 13. Interpretieren Sie das Minnelied: • Fassen Sie den Inhalt strophenweise zusammen. • Analysieren Sie das Gedicht formal (Strophen, Verse, Reimschema, Minneform). • Erörtern Sie die Form der Minne, wie Walther sie hier darstellt. • Deuten Sie das Ende. 14. Verfassen Sie selbst ein Minnelied: • Schreiben Sie ein Minnelied. Dieses soll drei Strophen mit jeweils vier Versen haben (Paarreim, Kreuzreim oder umarmender Reim). Entscheiden Sie sich, ob es der Hohen oder Ebenen Minne entsprechen soll und wählen Sie eine Liedform (Tagelied, Botenlied, Frauenstrophen, Wechsel). 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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