Killinger Literaturkunde, Schulbuch

252 Drama des Expressionismus Wegbereiter des expressionistischen Dramas war Frank Wedekind (1864 – 1918), der sich gegen die mechanistische Psychologie des Naturalismus wandte und sich gegen die Scheinwelt des Bürgertums auflehnte. Die Tragödie Frühlings Erwachen (1891) zeigt das Schicksal eines heranwachsenden Mädchens, das an der Scheinmoral der bürgerlichen Gesellschaft zerbricht. Frau Bergmann erzählt ihrer 14-jährigen Tochter Wendla, dass Wendlas Schwester Ina ein Kind bekommen habe. Sie spricht jedoch davon, dass der Storch das Kind gebracht habe. Wendla wurde nie aufgeklärt, was ihr später zum Verhängnis wird. Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891) WENDLA Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er [Anm. der Storch] durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen kam. FRAU BERGMANN Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! Ina sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm gesprochen. WENDLA Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme. FRAU BERGMANN Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein kam. WENDLA Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? – Der Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den Schornstein fliegt oder nicht. Frau Bergmann Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger vom Storch! – Der schwatzt dir allerhand dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt … [...] Wendla lässt sich jedoch von den Ausflüchten ihrer Mutter nicht abbringen zu fragen, was es mit der Entstehung des menschlichen Lebens auf sich hat. WENDLA Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! – Nun ich dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden. FRAU BERGMANN Ich kann nicht, Wendla. WENDLA Oh, warum kannst du nicht, Mütterchen! – Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will geduldig ausharren, was immer kommen mag. FRAU BERGMANN Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! – Komm in Gottes Namen! – Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du in diese Welt hineingekommen. – So hör mich an, Wendla... WENDLA unter ihrer Schürze Ich höre. FRAU BERGMANN ekstatisch Aber es geht ja nicht, Kind! – Ich kann es ja nicht verantworten. – Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt – daß man dich von mir nimmt … WENDLA unter ihrer Schürze Faß dir ein Herz, Mutter! FRAU BERGMANN So höre denn …! WENDLA unter ihrer Schürze, zitternd O Gott, o Gott! FRAU BERGMANN Um ein Kind zu bekommen – du verstehst mich, Wendla? WENDLA Rasch, Mutter – ich halt’s nicht mehr aus. Verlogenheit des Bürgertums 5 10 15 20 25 30 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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