Killinger Literaturkunde, Schulbuch

BIEDERMEIER UND VORMÄRZ | 1815 – 1848 193 Stifter antwortete auf die Kritik an seiner Darstellungsweise in seiner Vorrede zu den Bunten Steinen (1853), einer Sammlung von sechs Erzählungen. Er formulierte darin das so genannte „sanfte Gesetz“: Adalbert Stifter: Aus der Vorrede zu den Bunten Steinen (1853) Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß; das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge emportreibt und auf den Flächen der Berge hinabgleiten lässt. Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich [...] So wie es in der äußern Natur ist, so ist es auch in der innern, in der des menschlichen Geschlechts. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß; mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer. [...] Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. 11. Diskutieren Sie Stifters Text, in dem er das „sanfte Gesetz“ beschreibt: • Geben Sie wieder, worauf es Stifter ankommt. • Zeigen Sie, wie er die Vorgänge in der Natur sieht. • Kommentieren Sie Stifters Idealbild des Menschen. • Stellen Sie Vermutungen darüber an, wie heutige Menschen dazu stehen wurden. 12. Erklären Sie, warum Stifters literarische Werke als typisch fur seine Zeit angesehen werden. 13. Besprechen Sie in der Gruppe die Frage, ob Schriftstellerinnen und Schriftsteller nur allgemein menschliche Probleme darstellen sollen, oder ob sie die Verpflichtung haben, einzugreifen und Positionen zu beziehen: • Vergleichen Sie die Vorgangsweise Stifters mit der politisch engagierter Autorinnen und Autoren wie z. B. Christian Schubart (vgl. S. 113) oder Bertolt Brecht (vgl. S. 261 ff.). • Streben Sie eine gemeinsame Position in der Gruppe an. 5 10 15 20 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==