BIEDERMEIER UND VORMÄRZ | 1815 – 1848 179 Schlichtheit und Behaglichkeit gekennzeichnet ist. Sodann wurde der Name auch für die damals so beliebte Porträt- und Landschaftsmalerei (Ferdinand Georg Waldmüller 1793 – 1865) gebraucht und schließlich für eine bestimmte Form der Literatur. Zu den Dichterinnen und Dichtern des Biedermeier rechnet man u. a. die Österreicher Franz Grillparzer, Ferdinand Raimund, Johann Nestroy, Adalbert Stifter, Nikolaus Lenau und die Deutschen Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike und Karl Immermann sowie den Schweizer Jeremias Gotthelf. Ludwig Tieck und Joseph von Eichendorff stehen in ihrem Spätwerk dem Biedermeier nahe. Einen geschlossenen Kreis mit einem festen Programm haben die Dichterinnen und Dichter des Biedermeier nicht gebildet; sie sind Einzelgängerinnen und Einzelgänger. Politisch sind sie zurückhaltend. Sie spüren zwar schmerzlich das Zwangssystem, doch sie versuchen, den Zwiespalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit zuzudecken, die Gegensätze zu harmonisieren. Die Autoren und Autorinnen dieser Zeit, besonders die aus Österreich, kennen das Chaotische in der Gesellschaft und die Abgründe in der menschlichen Psyche sowie die zerstörende Wirkung der Leidenschaften. Ihr Ziel ist es, durch Ordnung, Selbstbeherrschung und Verzicht trotz aller Gefahren ein ausgeglichenes Leben zu erreichen. Sie suchen für sich und ihre poetischen Figuren nach sicheren Unterständen im Dasein: Religion, Heimat, Familie. Sie verzichten auf das „große Leben“, den öffentlichen Ruhm, auch als Dichterinnen und Dichter, auf das Sichausleben, das die Jungdeutschen (vgl. S. 195) predigen. Sie schätzen den inneren Frieden, das häusliche, private Glück. Typisch für diese Einstellung ist eine Stelle in Franz Grillparzers Der Traum ein Leben (1834): Eines nur ist Glück hienieden, Eins, des Innern stiller Frieden Und die schuldbefreite Brust. Und die Größe ist gefährlich, Und der Ruhm ein leeres Spiel. Was er gibt, sind nichtge Schatten, Was er nimmt, es ist so viel. Das Biedermeier hat eine Vorliebe für das Familiäre, für die Idylle im Heim und einen Hang zum Musealen: Alte Hausgeräte, „verschollener Trödel“ (Stifter), Steine, Pflanzen, Insekten werden liebevoll gesammelt und gepflegt. Die Themen und Motive der Dichtung des Biedermeier stammen meist aus dem privaten Bereich. Das Handeln der Menschen dringt nicht in die Öffentlichkeit, ja manche verweigern es überhaupt. Problematisch wird diese Einstellung bei Personen, die zu öffentlichem Handeln berufen sind, wie Kaiser Rudolf II. in der Tragödie Ein Bruderzwist in Habsburg (1872) von Grillparzer. Die Lebensgrundstimmung einzelner Dichterinnen und Dichter des Biedermeier ist melancholischer Art (Grillparzer, Raimund, Lenau, Stifter). Sie schauen in Erinnerungen zurück, „wehmütig aufs Vergangene“ gerichtet (Mörike). Daher finden sich in ihrer Prosa die vielen Kindheitsgeschichten, die Sehnsucht nach dem einfachen Leben, die Liebe für Einsame, Eigenbrötler, Käuze (Grillparzer, Der arme Spielmann 1872). Die Handlung greift nicht in die weite Welt 2 4 6 Georg Friedrich Kersting (1785 – 1847), Paar am Fenster, ca. 1815. Schwermut als Grundstimmung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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