Killinger Literaturkunde, Schulbuch

ROMANTIK | 1795 – 1835 175 Die Nachwirkungen der Romantik sind vielfältig. Selbst eigenständige Dichterinnen und Dichter der folgenden Jahrzehnte können sich nur schwer von den Gedanken der Romantik lösen. Vieles wirkt bis in die Literatur der Gegenwart nach, so das Symbolhafte der romantischen Dichtung, ihre Verfremdungseffekte, das Groteske, Dämonische, die Auflösung der Gattungsformen, die Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten und anderes. Die romantische Ironie z. B. wird von Thomas Mann (1875 – 1955) wieder aufgenommen. Auf dem Ideengut der Romantik bauen die französischen Dichterinnen und Dichter des 19. Jahrhunderts auf, besonders die des Symbolismus. Der Nordamerikaner Edgar Allan Poe (1809 – 1849) und die Russen Nikolai Gogol (1809 – 1852) und Alexander Puschkin (1799 – 1837) berufen sich direkt auf E. T. A. Hoffmann. In Deutschland führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe wenig origineller Dichterinnen und Dichter die Themen der Romantik, etwa die deutsche Vergangenheit, in der Burschenschaftslyrik und Butzenscheibenromantik1 weiter. Auch die sentimentale Trivialliteratur (vgl. S. 427) bemächtigte sich der Motive der Romantik. Darüber hinaus sind Anschauungsweisen der Romantik volkstümlich geworden; so erleben wir heute noch gewisse Landschaften und Stimmungen als „romantisch“. Die Romantik hat nachhaltig die protestantische Theologie, die Rechtswissenschaft und die Geschichtsschreibung beeinflusst. Die Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur, die Germanistik, haben Romantiker begründet, und ihrer Begeisterung für die Volksdichtung ist es zu danken, dass vieles vor dem Vergessen bewahrt wurde. Neben den literarischen und wissenschaftlichen Auswirkungen muss man allerdings auch die zum Teil unheilvollen Wirkungen sehen, welche die nationalen Ideen bei den Völkern Europas ausgelöst haben. Das folgende Gedicht findet sich in dem romantischen Roman Dichter und ihre Gesellen von Joseph von Eichendorff, erschienen 1834. Es enthält eine Reihe spätromantischer Topoi2. Joseph von Eichendorff: Sehnsucht (1834) Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leibe entbrennte3, Da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften4, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht. 12. Setzen Sie sich mit dem Inhalt dieses Gedichts auseinander: • Fassen Sie den Text in kurzen Worten zusammen. • Analysieren Sie die inhaltliche Struktur dieses Textes. • Beschreiben Sie die fiktive poetische Landschaft. • Kommentieren Sie die Aussage dieses Textes. Fortbestehen romantischer Ideen Trivialisierung der Romantik 1 Butzenscheibenromantik: abwertend für altertümelnde Dichtung; Butzenscheibe: kleine, runde Glasscheibe, oft farbig, beliebt in der Romantik 2 Topos (Pl. Topoi): häufig wiederkehrende, bekannte Wendung, festes Denk- und Ausdrucksschema 3 entbrennte: mundartliche Form von entbrannte 4 Felsenschlüften: Schluchten Auswirkung auf Wissenschaften und Politik 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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