ROMANTIK | 1795 – 1835 171 Ich konnte die Nacht hindurch nicht schlafen, alles fiel mir von neuem in die Gedanken, und mehr als jemals fühlt’ ich, dass ich Unrecht getan hatte. Als ich aufstand, war mir der Anblick des Vogels sehr zuwider, er sah immer nach mir hin, und seine Gegenwart ängstigte mich. Er hörte nun mit seinem Liede gar nicht wieder auf, und er sang es lauter und schallender, als er es sonst gewohnt gewesen war. Je mehr ich ihn betrachtete, je bänger machte er mich; ich öffnete endlich den Käfig, steckte die Hand hinein und fasste seinen Hals, herzhaft drückte ich die Finger zusammen, er sah mich bittend an, ich ließ los, aber er war schon gestorben. – Ich begrub ihn im Garten. Als Walther nach ihrer Erzählung den Namen des Hundes aus der „Waldeinsamkeit“ nennt, obwohl sie sich nicht mehr daran erinnern kann, kommt es zur Katastrophe: Bertha wird dadurch sterbenskrank und weiht Eckbert in die Ursache ihrer Erkrankung ein. Um seine Frau und sich selbst von dem Druck der Ereignisse zu befreien, tötet er Walther. Bertha stirbt während seiner Abwesenheit. Eckbert lernt einen neuen Freund, Hugo, kennen, den er in den Mord an Walther einweiht. Danach glaubt er wiederholt, in seinem neuen Freund Hugo erneut Walther zu erkennen. Rastlos begibt er sich auf eine Reise. Plötzlich hört er im Wald wieder das Lied, von dem schon Bertha gesprochen hat. Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts geschehn; [...] das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig. Eine krummgebückte Alte schlich hustend mit einer Krücke den Hügel heran. „Bringst du mir meinen Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund?“ schrie sie ihm entgegen. „Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst: Niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo.“ – „Gott im Himmel!“ sagte Eckbert stille vor sich hin – „in welcher entsetzlichen Einsamkeit hab ich dann mein Leben hingebracht!“ – „Und Bertha war deine Schwester.“ Eckbert fiel zu Boden. „Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich alles gut und schön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber. Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, die Tochter deines Vaters.“ – „Warum hab ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet?“ rief Eckbert aus. „Weil du in früher Jugend deinen Vater einst davon erzählen hörtest; er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sich erziehn lassen, denn sie war von einem andern Weibe.“ Eckbert lag wahnsinnig und verscheidend auf dem Boden; dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und den Vogel sein Lied wiederholen. 6. Analysieren Sie dieses Kunstmärchen nach inhaltlichen und sprachlichen Gesichtspunkten: • Erläutern Sie, welchen Gefährdungen der Mensch diesem Märchen nach ausgesetzt ist. • Zeigen Sie auf, mit welchen sprachlichen Mitteln das Unheimliche in diesem Text gestaltet wird. • Erklären Sie, welche Aspekte diesen Text als Kunstmärchen ausweisen. 40 45 50 55 60 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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