Killinger Literaturkunde, Schulbuch

170 Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert (1797) Ich lief immerfort, ohne mich umzusehen, ich fühlte keine Müdigkeit, denn ich glaubte immer, mein Vater würde mich einholen und, durch meine Flucht gereizt, mich noch grausamer behandeln. [...] Statt der erhofften Mühle, stieß ich auf einen Wasserfall, der meine Freude freilich um vieles minderte; ich schöpfte mit der Hand einen Trunk aus dem Bache, als mir plötzlich war, als hörte ich in einiger Entfernung ein leises Husten. Nie bin ich so angenehm überrascht worden als in diesem Augenblick, ich ging näher und ward an der Ecke des Waldes eine alte Frau gewahr, die auszuruhen schien. Sie war fast ganz schwarz gekleidet, und eine schwarze Kappe bedeckte ihren Kopf und einen großen Teil des Gesichtes, in der Hand hielt sie einen Krückenstock. Ich näherte mich ihr und bat um ihre Hilfe, sie ließ mich neben sich niedersitzen und gab mir Brot und etwas Wein. Indem ich aß, sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches Lied. Als sie geendet hatte, sagte sie mir, ich möchte ihr folgen. Ich war über diesen Antrag sehr erfreut, so wunderlich mir auch die Stimme und das Wesen der Alten vorkam. Mit ihrem Krückenstocke ging sie ziemlich behände, und bei jedem Schritte verzog sie ihr Gesicht so, dass ich am Anfang darüber lachen musste. Die wilden Felsen traten immer weiter hinter uns zurück, wir gingen über eine angenehme Wiese und dann durch einen ziemlich langen Wald. [...] Wir stiegen nun einen Hügel hinan, der mit Birken bepflanzt war, von oben sah man in ein grünes Tal voller Birken hinein, und unten mitten in den Bäumen lag eine kleine Hütte. Ein munteres Bellen kam uns entgegen, und bald sprang ein kleiner behänder Hund die Alte an und wedelte; dann kam er zu mir, besah mich von allen Seiten und kehrte mit freundlichen Gebärden zur Alten zurück. Als wir vom Hügel hinuntergingen, hörte ich einen wunderbaren Gesang, der aus der Hütte zu kommen schien, wie von einem Vogel; es sang also: „Waldeinsamkeit, Die mich erfreut, So morgen wie heut In ew’ger Zeit, O wie mich freut Waldeinsamkeit.“ [...] Das Mädchen bleibt bei der Alten, muss täglich für sie spinnen und die Tiere versorgen, während sie allein zu Hause ist. Vier Jahre hatte ich so mit der Alten gelebt, und ich mochte ungefähr zwölf Jahre alt sein, als sie mir endlich mehr vertraute und mir ein Geheimnis entdeckte. Der Vogel legte nämlich an jedem Tage ein Ei, in dem sich eine Perle oder ein Edelstein befand. Ich hatte schon immer bemerkt, dass sie heimlich in dem Käfig wirtschafte, mich aber nie genauer darum bekümmert. Sie trug mir jetzt das Geschäft auf, in ihrer Abwesenheit diese Eier zu nehmen und in den fremdartigen Gefäßen wohl zu verwahren. Eines Tages beschließt das Mädchen, die Hütte zu verlassen, die Edelsteine und den Vogel mitzunehmen, den Hund aber zurückzulassen. Das Mädchen kommt in ihr Heimatdorf, muss aber erfahren, dass die Eltern verstorben sind. Sie lebt zurückgezogen in einem Haus mit Garten. 5 10 15 20 25 30 35 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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