HOCHMITTELALTER | 1170 – 1230 17 Dô sprach daZ gesinde: „waZ ob eZ ist ein gast?“ Da sagte die Dienerschaft: „Vielleicht ist es ein Fremder?“ daZ bluot ir ûZ dem munde von herzen jâmer brast. Doch ihr schoss vor tiefem Schmerz das Blut aus dem Mund. dô sprach si: „eZ ist Sîfrit, der mîn vil lieber man: Da sagte sie: „Es ist Siegfried, mein geliebter Mann: eZ hât gerâten Prünhilt, daZ eZ hât Hagene getân.“ [...] Brünhild hat es geraten, Hagen hat es getan.“ [...] Diu naht was zergangen: man sagte. eZ wolde tagen. Die Nacht war nun vergangen, und es hieß, der Morgen nahe heran. dô hieZ die edel vrouwe zuo dem münster tragen Da ließ die edle Herrin ihren geliebten Gemahl, Sîfriden den herren, ir vil lieben man. den Herrn Siegfried, zum Münster tragen. swaZ er dâ vriunde hête, die sach man weinende gân. Alle, die seine Freunde waren, sah man weinend dem Sarg folgen. Dô si. in zem münster brâhten, vil der gloken klanc. Als sie ihn nun zum Münster trugen, da läuteten viele Glocken. dô hôrte man allenthalben vil maniges pfaffen sanc. Da hörte man von allen Seiten den Gesang unzähliger Geistlicher. dô kom der künic Gunther mit den sînen man Da schlossen sich Gunther mit seinen Gefolgsleuten und ouch der grimme Hagene zuo dem wuofe gegân. und auch der finstere Hagen den Wehklagenden an. Er sprach: „vil liebiu swester, owê der leide dîn, Gunther sagte: „Meine liebe Schwester, ach, wie musst du leiden, daZ wir niht kunden âne des grôZen schaden sîn. wäre uns doch dieser Verlust erspart geblieben. wir müeZen klagen immer den Sîfrides lîp.“ Allezeit wird es uns ein Bedürfnis sein, um Siegfried zu klagen.“ „daZ tuot ir âne schulde“, sprach daZ jâmerhafte wîp. [...] „Dazu habt ihr gar keinen Grund“, sagte da die trauernde Frau. [...] Si buten vaste. ir lougen. Kriemhilt begonde jehen: Sie leugneten es mit Entschiedenheit. Doch Kriemhild sagte: „swelher sî unschuldec, der lâZe daZ gesehen; „Wer unschuldig ist, der soll das auch öffentlich zeigen; der sol zuo der bâre vor den liuten gên. und vor den Augen aller Leute zu der Totenbahre treten. dâ bî mac man die wârheit harte schiere verstên.“ Dann wird man sehr schnell die volle Wahrheit erkennen.“ DaZ ist ein michel wunder: vil dicke. eZ noch geschiht, Es grenzt ans Wunderbare, und dennoch geschieht es noch heute, swâ man den mortmeilen bî dem tôten siht, wenn ein mordbefleckter Mensch an den Leichnam seines Opfers tritt, sô bluotent im die wunden: als ouch dâ geschach. da bluten die Wunden von neuem, so wie es auch da geschah. dâ von man die schulde dâ ze Hagene gesach. Daran wurde offenbar, dass die Schuld bei Hagen lag. 3. Verfassen Sie einen inneren Monolog aus der Sicht der Kriemhild, als sie den toten Siegfried im Vorraum erblickt. In Hagens Mord an Siegfried, in der zynischen Grausamkeit, den Ermordeten nachts heimlich vor Kriemhilds Kemenate legen zu lassen, wird zum ersten Mal eine Triebkraft wirksam, die fortan das Denken und Handeln der Hauptfiguren bestimmt und schließlich zum Untergang der Burgunden führt: das Verlangen nach „eislîcher râche“, nach furchtbarer, maßloser Vergeltung. 1010 1038 Die Aufbahrung des Toten in der Kirche 1040 1041 1043 1044 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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