168 Volks- und Kunstmärchen Die beliebteste Form der Hochromantik war das Märchen, in dem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wunschwelt durch das Ereignis des Wunderbaren aufgehoben sind. Jacob (1785 – 1863) und Wilhelm Grimm (1786 – 1859) zeichneten viele Volksmärchen auf, die sie 1812 erstmals unter dem Titel Kinder- und Hausmärchen herausgaben. Volksmärchen Die Entstehung der Volksmärchen ist nicht ganz geklärt. Auffallend sind die vielen gleichen Motive in Märchen aller Völker, auch solcher, die nie miteinander in Berührung gekommen sind. Märchen wurden jahrhundertelang mündlich überliefert. Der festgefügte Handlungsablauf stellt außerordentliche Schwierigkeiten und deren Bewältigung dar. Die Konflikte erwachsen aus gegensätzlichen Charaktereigenschaften der handelnden Personen: fleißig – faul, schön – hässlich, dumm – schlau, gut – böse. Die meisten Figuren haben keine Namen und sind typische Vertreter von Rollen und Ständen in der Gesellschaft (der König, die Prinzessin, der Jäger, der Müller, die Mutter etc.). Daneben treten Wesen anderer Art auf (Hexen, Riesen, Zwerge, Feen etc.). Tiere verhalten sich oft wie Menschen und können sprechen. Realistisches und Überwirkliches (Magisches) gehen im Märchen ohne Grenze ineinander über. Verzauberungen und Verwandlungen werden als Realität hingestellt. Raum und Zeit werden nur allgemein angegeben („Es war einmal ...“, „im tiefen Wald“, „in einem Schloss“). Die Umwelt wird nicht genau geschildert. Die Sprache ist volksnah, im Stil und im Satzbau der gesprochenen Erzählweise angenähert. Sie wird formelhaft eingesetzt, z. B. am Anfang und am Schluss des Märchens. Diese Formelhaftigkeit zeigt sich auch in der Verwendung von Versen und Wiederholungen, z. B. etwas dreimal sagen oder tun. 3. Recherchieren Sie typische Märchenfiguren und ihre Eigenschaften und erstellen Sie eine Übersicht in Tabellenform. Gebrüder Grimm: Rumpelstilzchen (1812/1815) Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, daß er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein Ansehen zu geben, sagte er zu ihm: „Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.“ Der König sprach zum Müller: „Das ist eine Kunst, die mir wohlgefällt, wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bringe sie morgen in mein Schloß, da will ich sie auf die Probe stellen.“ Als nun das Mädchen zu ihm gebracht ward, führte er es in eine Kammer, die ganz voll Stroh lag, gab ihr Rad und Haspel und sprach: „Jetzt mache dich an die Arbeit und wenn du diese Nacht durch bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so mußt du sterben.“ Darauf schloß er die Kammer selbst zu, und sie blieb allein darin. Da saß nun die arme Müllerstochter und wußte um ihr Leben keinen Rat: sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen konnte, und ihre Angst ward immer größer, daß sie endlich zu weinen anfing. Da ging auf einmal die Thür auf und trat ein kleines Männchen herein und sprach: „Guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint sie so sehr?“ „Ach“, antwortete das Mädchen, „ich soll Stroh zu Gold spinnen und verstehe Wesenszüge des Volksmärchens 5 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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