Killinger Literaturkunde, Schulbuch

ROMANTIK | 1795 – 1835 165 Neben Schelling hatte auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814), der Professor in Jena war, großen Einfluss auf die Frühromantik. Er begründete in seiner Wissenschaftslehre (1794) eine Ich-Philosophie: Das Ich setzt sich selbst, das heißt, der Mensch erarbeitet sich seine geistigsittliche Persönlichkeit. Er ist keine Tatsache, sondern eine Tathandlung. Indem er die Welt denkt und ordnet, ihr einen Sinn gibt, schafft er sie erst. Fichte war von der Freiheit des menschlichen Willens überzeugt. Nicht die Dinge bestimmen das Ich, sondern umgekehrt: Das Ich, der menschliche Geist, schafft und bestimmt die Dinge. Man nennt eine solche philosophische Auffassung Idealismus (zu griech. idéa), weil sie das geistige Prinzip an die erste Stelle setzt (Gegensatz: Materialismus, vgl. die Auffassung von Karl Marx, S. 203). Der subjektive Idealismus Fichtes wird zur Leitlinie der Romantik: Da die Dinge vom handelnden Menschen ihr Sein und ihren Sinn erhalten, kann der schöpferische Mensch das Sein verändern, auch aufheben. Die Künstlerinnen und Künstler haben die Freiheit zum unbegrenzten Spiel mit Stoff, Stimmung und Form. Sie schaffen aus ihrer Phantasie eine Welt der Illusion, die sie danach in Frage stellen, ja wieder aufheben können. Sie waren sich durchaus bewusst, dass ihr Versuch der Poetisierung der Welt Utopie bleiben würde und zum Scheitern verurteilt war. Diese romantische Ironie wird zum Kennzeichen der Darstellungsweise. Einige Dichterinnen und Dichter der Frühromantik besaßen ein feines Gefühl für fremde Sprachen und Kulturen. Sie erschlossen durch Übersetzungen und Nachdichtungen dem deutschen Publikum die literarischen Schätze vieler Zeiten und Länder. August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck und später dessen Tochter Dorothea stellten Übersetzungen der Dramen Shakespeares her, die heute noch gedruckt und gespielt werden. Auch portugiesische, spanische und italienische Werke wurden übersetzt. Muster aller Poesie war für die Frühromantik Goethes Wilhelm Meister, mit dem sich fast alle produktiv auseinandersetzten. Sie wandelten den Entwicklungs- und Bildungsroman in den Künstlerroman um. Zwischen den Klassikern in Weimar und den Romantikerinnen und Romantikern in Jena gab es zwar keine Übereinstimmung, doch einen Ideen- und Gedankenaustausch. Mit der Zeit aber wurden die Unterschiede immer deutlicher. Die Klassik zielte auf das Objektive, Allgemeingültige; die Romantik suchte das Individuelle, Charakteristische. Das Vorbild der Antike wurde in der Romantik nicht mehr unbedingt anerkannt. Dafür fand sie im Mittelalter ihre Ideale verwirklicht. In Novalis’ Roman über einen sagenhaften Minnesänger, Heinrich von Ofterdingen (1802), findet sich das Symbol der romantischen Poesie, die „blaue Blume“. Auch Ludwig Tieck siedelte viele seiner Geschichten im Mittelalter an, z. B. seine märchenhafte Erzählung Der blonde Eckbert (1797). Tieck stellte das Geheimnisvolle, das Abgründige und die Sehnsucht dar, Themen, die von den Klassiker gemieden wurden. Novalis (= Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) (1772 – 1801) Für Novalis ist die Lyrik „das Poetische schlechthin“. Sie ist „Schutzwehr gegen das gewöhnliche Leben“. Ihre Phantasie genießt die Freiheit, „alle Bilder durcheinander zu werfen“. Sie ist Opposition gegen eine Welt der Gewohnheit. „Jedes Wort ist Beschwörung.“ In der dichterischen Sprache „ist es wie mit mathematischen Formeln; sie machen eine Welt für sich aus, spielen nur mit sich selbst.“ „Gedichte, bloß wohlklingend, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang, höchstens einzelne Strophen verständlich, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedensten Dingen.“ Mit diesen Auffassungen von Lyrik wird Novalis zum Vorläufer der modernen Lyrik, insbesondere der surrealen1. Die einzige Dichtung, die Novalis (er starb im Alter von 29 Jahren) abgeschlossen hat und die zu seinen Lebzeiten erschien, sind die Hymnen an die Nacht. Entscheidend war das Erlebnis des frühen Todes seiner ersten Braut, Sophie. Novalis beschäftigte sich zur Entstehungszeit der Hymnen mit Das Ich als Schöpfer einer sinnvollen Welt Aufhebung der Illusion durch Ironie Übersetzungen Lyrik als Schutz gegen die Gewöhnlichkeit 1 surreal: über die Wirklichkeit hinausgehend, geheimnisvoll, rätselhaft Das Todeserlebnis des Novalis Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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