164 FRÜHROMANTIK In der Stadt Jena, die zum Herzogtum SachsenWeimar gehörte, taten sich in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts die Brüder August Wilhelm Schlegel (1767 – 1845) und Friedrich Schlegel (1772 – 1829), die sich als Literaturtheoretiker verstanden, der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling (1775 – 1854) und die beiden Dichter Ludwig Tieck (1773 – 1853) und Novalis (eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, 1772 – 1801) zusammen. Sie waren Studenten oder freie Schriftsteller, alle zwischen 25 und 30 Jahre alt und fest entschlossen, ihr Leben anders zu gestalten als die „philisterhaften Bürger“1, nämlich als exzentrische Bohemiens2, die nicht nur ein neues Kunstprogramm, sondern auch die Emanzipation der Frau und die freie Liebe durchsetzen wollten. Die Gruppe verstand sich zunächst als Gegengewicht zur Spätaufklärung und deren Betonung der Vernunft. Sie fand sich bestätigt durch Herder (1744 – 1803) und Hamann (1730 – 1788), die sich bereits in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts auf die Kräfte des leidenschaftlichen Fühlens, auf die Phantasie und die Ahnung berufen hatten. Nur im Traum, in der Vision und in der Ekstase3 könnten Menschen die wahre Welt ahnen. Von daher wird die romantische Poesie eine Poesie der Sehnsucht und der Phantasie. Natürlich setzte sich die Frühromantik mit dem Erbe des Sturm und Drang und auch mit den ersten Werken der Klassik auseinander. Die Leitbegriffe des Sturm und Drang, nämlich Natur, Genie, Gefühl, Freiheit, wurden als unabdingbare Voraussetzungen für die Poesie übernommen. Während jedoch der Sturm und Drang jede Führungsrolle der Wissenschaft abgelehnt hatte, ließ sich die romantische Dichtung in hohem Maß von ihr leiten. Für sie waren literaturtheoretische Erörterungen sehr wichtig. Sie suchten nach einer philosophischen Begründung ihres Weltbildes und wollten ihre Ideen auch in die Rechts- und Staatswissenschaft und in die Naturwissenschaften tragen. Für die romantische Weltsicht wurde die Naturphilosophie Friedrich Wilhelm Schellings bestimmend. Er verstand die Natur als schöpferischen Urgrund allen Seins. Alles in der Natur strebt darauf zu, Geist zu werden. Das geistige Prinzip entfaltet sich im Menschen als Erkennen, Wollen und Fühlen. Das Erkennen führt zu den Wissenschaften, das Wollen zur Staatenbildung und zur Politik, das Fühlen aber zur Kunst als dem höchsten Ausdruck des menschlichen Geistes. Diese Gedanken nahm die Romantik, vor allem Novalis, auf und ging den Weg zurück: Das Kunstwerk wurde zum Mittel, zu den geheimen Kräften der Natur zurückzukehren. Die Folge war ein Verwischen der Grenzen zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, wobei sich das Interesse immer mehr auf das Unbekannte, Dunkle, Unheimliche verlagerte. Jenaer Kreis 1 philisterhafte Bürger: Spießbürger 2 Bohemien: unbekümmerte, leichtlebige, unkonventionelle Künstlernatur 3 Ekstase: Verzückung, rauschhafter Zustand Geist als Ziel der Entwicklung Caspar David Friedrich (1774 – 1840), Der Wanderer über dem Nebelmeer, 1818. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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