Killinger Literaturkunde, Schulbuch

162 Anekdote Das Wort Anekdote bedeutet wörtlich: Nichtherausgegebenes. Der Begriff entstand am byzantinischen Hof des Kaisers Justinian (6. Jahrhundert), wo Klatschgeschichten über wichtige Persönlichkeiten erzählt wurden. Vom Inhalt her wurde die Form geprägt: Eine Anekdote ist heute eine kurze, oft heiter-witzige Erzählung einer merkwürdigen Begebenheit am Rande. Häufig geht es um eine bekannte Persönlichkeit, die im privaten Bereich charakterisiert wird. Den Schluss bildet eine Pointe, eine überraschend witzige Wendung. Die Anekdote erfordert eine knappe, dem Witz verwandte Sprache, welche die Pointe durch Weglassen alles Überflüssigen scharf und zugespitzt herausarbeitet. Die wenigen Anekdoten, die Kleist geschrieben hat, sind kennzeichnend für seinen Prosastil. Der verlegene Magistrat (1810) Ein H...r Stadtsoldat hatte vor nicht gar langer Zeit, ohne Erlaubnis seines Offiziers, die Stadtwache verlassen. Nach einem uralten Gesetz steht auf ein Verbrechen dieser Art, das sonst der Streifereien des Adels wegen, von großer Wichtigkeit war, eigentlich der Tod. Gleichwohl, ohne das Gesetz mit bestimmten Worten aufzuheben, ist davon seit vielen hundert Jahren kein Gebrauch mehr gemacht worden: dergestalt, dass statt auf die Todesstrafe zu erkennen, derjenige, der sich dessen schuldig macht, nach einem feststehenden Gebrauch, zu einer bloßen Geldstrafe, die er an die Stadtkasse zu erlegen hat, verurteilt wird. Der besagte Kerl aber, der keine Lust haben mochte, das Geld zu entrichten, erklärte, zur großen Bestürzung des Magistrats: dass er, weil es ihm einmal zukomme, dem Gesetz gemäß, sterben wolle. Der Magistrat, der ein Missverständnis vermutete, schickte einen Deputierten an den Kerl ab und ließ ihm bedeuten, um wie viel vorteilhafter es für ihn wäre, einige Gulden Geld zu erlegen, als arkebusiert1 zu werden. Doch der Kerl blieb dabei, dass er seines Lebens müde sei und dass er sterben wolle: dergestalt, dass dem Magistrat, der kein Blut vergießen wollte, nichts übrig blieb, als dem Schelm die Geldstrafe zu erlassen, und noch froh war, als er erklärte, dass er, bei so bewandten Umständen, am Leben bleiben wolle. 9. Untersuchen Sie typische Merkmale der Anekdote anhand dieses Textes: • Fassen Sie die merkwurdige Begebenheit zusammen. • Zeigen Sie die witzige Wendung auf. • Analysieren Sie die sprachliche Umsetzung. 10. Verfassen Sie eine Szene, die den Dialog zwischen dem Soldaten und dem Magistrat wiedergibt, und spielen Sie die Szene nach. Der Baseler Johann Peter Hebel (1760 – 1826) gab jahrelang einen volkstümlichen Kalender heraus, den Rheinländischen Hausfreund, in dem er eine große Zahl von Anekdoten abdrucken ließ. Die heute noch lebendige Anekdote hat etwas von der Ursituation des Erzählens bewahrt: Der Erzähler bzw. die Erzählerin berichtet aus seiner oder ihrer Erinnerung einen selbst erlebten oder gehörten merkwürdigen Vorfall in wirkungsvoller Weise, um das Publikum in Erstaunen zu setzen und zu unterhalten. 5 10 1 arkebusiert: erschossen (Arkebuse = Gewehr) 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy MjU2NDQ5MQ==