Killinger Literaturkunde, Schulbuch

ZWISCHEN KLASSIK UND ROMANTIK 159 Die Ausrichtung auf das Mittelpunktereignis hat zur Folge, dass sich der Autor bzw. die Autorin um die Raffung der Handlung und um Kürze bemühen muss: Er oder sie springt, verknappt und spart aus. Der Aufbau einer Novelle ist ähnlich straff wie der einer klassischen Tragödie: Auf eine kurze Exposition folgt das erregende Moment; die Handlung wird bis zum Wendepunkt geführt, der etwas Unerwartetes, Außerordentliches bringt. In manchen Novellen kommt ein Zentralmotiv oder Leitmotiv vor: An mehreren entscheidenden Stellen begegnen wir einem bestimmten Ding, Tier oder Menschen; manchmal ist es auch ein Lied, ein Spruch. Das Zentralmotiv kann symbolische Bedeutung haben (Dingsymbol). Jedenfalls hat es Signalwirkung, aber auch die Aufgabe, die Handlung zu verklammern. Paul Heyse nannte ein solches Leitmotiv, das an den wesentlichen Stellen des Textes wiederkehrt, das Falkenmotiv (nach einer Novelle von Boccaccio aus dem Decamerone). Manche Novellen weisen einen Rahmen auf, das heißt, die zu erzählende Geschichte wird in eine weitere Erzählung eingebettet. Der Rahmen kann die Aufgabe haben, mehrere Erzählungen zu einem „Novellenkranz“ zu verbinden, wie in Boccaccios II Decamerone. Er kann aber auch eine einzige Geschichte umschließen. Häufig schafft sich der Autor bzw. die Autorin eine Erzählerfigur, die aus ihrem Leben berichtet und die Glaubwürdigkeit des Erzählten bestätigt. Signalwirkung des Zentralmotivs Giovanni Boccaccio, Il Decamerone: französische Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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